[Triggerwarnung: Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe, Rassismus, Alkohol]
Dieser Artikel ist der zweite Teil eines zweigeteilten Artikels. Den ersten Teil findet ihr hier.
Dieser zweite Teil wurde von Victoria ergänzt.
Wir haben bereits in einem ersten Artikel auf den viel diskutierten Zeitungsartikel aus der letzten Woche reagiert. Das möchte ich aber noch in eine bestimmte Richtung erweitern: #metoo und Großveranstaltungen sind keine getrennten Themen. Im Gegenteil. Die Forderung, #metoo solle „Ferien“ haben, ist nur eine neue Facette des bekannten Arguments: Feiern soll Spaß machen, und anscheinend funktioniert das nur, wenn man nicht auf die Bedürfnisse und Grenzen der eigenen Mitmenschen achten muss. Dass dabei ein Großteil der Beteiligten übergangen wird (und ein guter Teil beschissene, teilweise traumatische Dinge erlebt), scheint in der Planung von Großveranstaltungen nicht vorzukommen.
Fast alle Menschen, die keine cis Männer sind, haben sich vor einer Veranstaltung darüber Gedanken gemacht, welche Übergriffigkeiten passieren könnten – und wägen davor oder sogar dabei ab, ob der Besuch das wert ist. Ich plane es bei Besuchen im Konzert und in Clubs und auch auf großen privaten Partys bei mir nicht allzu bekannten Menschen ein, dass cis Männer übergriffig werden. Die Lösung dieser Rechnung hängt von Faktoren wie dem zu erwartenden Anteil anwesender cis Männer ab – aber auch von der Größe der Veranstaltung. Denn was Moderierende oft „Ausgelassenheit“ nennen, wenn eine große Party sich verselbstständigt, wird für manche von uns der Albtraum sein, der uns Jahre oder, wenn wir besonders „Pech” haben, unser ganzes Leben nicht mehr loslässt.
Ich setze „Pech“ in Anführungszeichen, weil ich es in diesem Kontext oft höre. Ich denke, wir müssen hier nicht darüber diskutieren, weshalb „einen von den miesen cis Männern erwischen“ kein Pech, sondern statistisch leider wahrscheinlicher ist als das Glück, einen von den Guten zu erwischen. Besonderes Glück ist dann die (zumindest bei mir) bei anderen befreundeten Menschen schon selbstverständliche Solidarität eines cis Mannes, der sich bei Übergriffen auf meine Seite schlägt und den übergriffigen Mann zurechtweist, im besten Fall mit mir den Vorfall meldet, um die Person von der Veranstaltung zu entfernen, oder mir zumindest Schutz und Begleitung bietet, um die Situation zu verlassen. (Denn wir wissen ja, cis Männer besitzen alle anderen Menschen und dann hat ja schon jemand Anspruch auf mich erhoben.)
Die Schwelle zu den Übergriffigkeiten werden durch den erhöhten Alkoholpegel schneller überschritten. Von cis Männern habe ich immer wieder gehört, dass sie das ein bisschen unangenehm, nervig oder vielleicht auch mal brenzlig finden. Für uns ist das lebensgefährlich. Beim Karneval wird noch mehr als sonst darauf herabgesehen, keinen zu trinken, was das Überzeugen zum Trinken wahrscheinlicher und das Hinwegsehen über Abfüllen akzeptierter macht. Zudem kann jedes Getränk stärker sein als erwartet, weil uns der Barkeeper – oder die Begleitung oder irgendein anderer cis Mann – abfüllen wil. Und diese Gesamtstimmung macht die Menge nicht mehr zu einem Verbündeten, wenn wir uns wehren.
In eng vollgestellten Straßenzügen kommen Betroffene bei und nach Übergriffen nicht schnell von den Tätern weg, dazu müssen Helfende in der direkten Umgebung sein, und die Täter dürfen nicht in Gruppen auftreten, die größer als die der Betroffenen sind. Auch die Wahrscheinlichkeit dafür steigt leider bei Festen, in denen das Saufen in Männertrupps sozial akzeptiert bis erwartet ist.
Neben rassistischen ist Karneval auch voll misogyner, sexistischer Motive und Denkweisen – und damit Kostümerwartungen. Ich möchte, wie immer, nicht darauf hinaus, Personen für ihre Kleiderwahl zu kritisieren (und die hat mit Übergriffen auch nichts zu tun, verdammt). Mir geht es um den Druck auf weiblich gelesene Menschen, ein sexy Kostüm zu tragen. Der ist in der Karnevalssaison allgegenwärtig und die Nichterfüllung ist oft verbunden mit einer sozialen Bestrafung: mit dem Ruf, langweilig zu sein und dadurch nicht nur aus dem eigenen Umfeld ausgeschlossen, sondern auch gern mal von völlig fremden cis Männern angemacht zu werden (denn wir wissen ja: zu viel tragen ist auch falsch).
Es entwickelt sich eine Erwartungshaltung daran, den Körper dieser Menschen „sehen zu dürfen“, eine Vorstellung eines Rechts darauf – und durch eklige Traditionen und Sendungen in allen Formaten wird dann auch noch bestätigt, dass Sex in diesen Tagen ohnehin nichts so Großes sei, auch bei fehlendem Konsens oder bei Betrug nicht, und dass Tragende solcher Kostüme Übergriffe ja auch witzig fänden (haben sie sich mit ihrer Kleiderwahl ja auch darauf eingelassen). Spoiler: Haben sie nicht. Keine Kleidung ist in sich selbst und ohne weitere Absprachen Konsens zu sexuellen Handlungen irgendeiner Art. Wohin das führt, wird jedes Jahr bei den Statistiken der Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffe nach solchen Großveranstaltungen klar – und das sind nur die gemeldeten Fälle, also zwischen 5 und 10 Prozent der tatsächlichen.
Solche sexy Kostüme haben nicht nur Auswirkungen auf die Verkleideten, sondern auch auf die Personengruppen, die diese Kostüme darstellen. Durch die Krankenschwestern in Strapse, “Pocahotties” oder Geishas mit tiefem Ausschnitt wird ein verzerrtes Bild von bestimmten Berufen oder Kulturen produziert. Während nicht Betroffene nach Karneval das Kostüm wieder ablegen, können andere Menschen hingegen ihre Haut nicht abstreifen. Selbst in langweiligen Jeans und Pullover wird von ihnen dieselbe Verfügbarkeit erwartet, wie diese sexy Kostüme scheinbar zum Ausdruck bringen. Das ist ein Grund, weshalb WoC solche Veranstaltungen meiden, aber sich auch im Alltag zugeknöpft zeigen, um nicht noch stärker fetischisiert zu werden.
#metoo hat also an Karneval – leider – keine „Ferien“, liebe Frau Rosenfeld. #metoo hat ein Jahreszeitenhoch.