Dieser Artikel ist von einer Person, die anonym bleiben möchte
[CN: Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe, Gewalt, Gewalt in Beziehungen, Victim Blaming, Gaslighting, Misogynie, Drohungen, BDSM/Kink, Stalking, (…)]
Vor etwa einem Jahr fand ein denkwürdiges Gespräch in der Küche meiner Eltern statt. Ich saß noch da, nach dem Frühstück, es ging um Pläne für den Tag, und meine Mutter schlug vor, dass wir beide uns einen Vortrag an der Uni in der nächsten größeren Stadt anhören könnten. Und dieser kleine, wirklich gut gemeinte Vorschlag (der Vortrag klang interessant, für mich, und meine Mutter ging selten mit mir in Uni-Kontexte!) ruinierte mir den Morgen. Denn ich war dagegen – und traute mich erst nach einer Weile zu sagen, weshalb. Ich hatte Angst, meinen Ex-Freund zu sehen. Die Antwort war ihr nicht genug und es passierte, was ich schon vermutet hatte: Sie pushte und pushte, bis ich ausbreitete, dass sie doch verdammt nochmal mitbekommen hatte, dass diese Beziehung abusive gewesen war. Was sie sofort zur – vielleicht als Verteidigung, vielleicht tatsächlich als gut gemeinte – Frage brachte, weshalb ich ihn denn nicht einfach verklagen würde. Die Antwort auf diese Frage war und ist um einiges länger als das, was sie wohl erwartet hatte.
Ich bin Survivor. Meine erste romantische Beziehung war zu einem Abuser, der mich vergewaltigt und geschlagen hat – und durch Gaslighting und weitere Manipulation dazu brachte, trotzdem noch mehrere Jahre bei ihm zu bleiben. Und auch wenn es rational betrachtet nur ein paar Jahre meines Lebens waren und ich inzwischen auch viele gute Erfahrungen gemacht habe, werfen mich Trigger und Erinnerungen an diese Zeit immer wieder aus der Bahn, wenn auch inzwischen weniger. Und doch kommt es immer wieder hoch, gerade auch die fehlenden Folgen, die fehlende „Rache“ oder jegliche Reaktion von mir, außer dass ich einfach so viel Abstand suche, wie ich kann. Ganz kann ich mir auch das nicht leisten, aber die Gründe sind kompliziert und ich werde später noch darauf eingehen.
Vor einigen Monaten trendete auf Twitter der Hashtag #WhyIDidn’tReport – Weshalb ich (meinen Vergewaltiger) nicht angezeigt habe. Denn die wenigsten Survivors tun es, das zeigen alle Statistiken, auch wenn ich mich darüber mal mit einer wichtigen Journalistin angelegt und damit wohl jegliche Karriere in den großen Medienhäusern für mich zunichte gemacht habe. (Inzwischen ist das aber auch kein Ziel mehr für mich, unter anderem wegen solcher Menschen.) Fast alle von uns Survivors, besonders eben die von uns, die keine cis Männer sind, kennen diese Frage nach der Klage und der sofort erfolgenden Bewertung der Antwort Nein. Denn es bleibt in den Augen der Gesellschaft ein Verlieren, diese rechtlichen Schritte nicht zu gehen. Was Bullshit ist – denn das passt viel zu sehr in das Narrativ, dass eine Autonomität zurückerobert werden muss, die durch die Vergewaltigung verloren wurde. Und die nur so zurückerobert werden kann und nicht etwa durch Abgrenzung und Abstand, was für die meisten Betroffenen gesünder ist, als sich ständig mit diesem ganzen erlebten Scheiß zu konfrontieren.
Also: Weshalb habe ich eigentlich dieses Arschloch nicht verklagt? Setzt euch, nehmt euch einen Tee und etwas Zucker, die Liste ist lang und die Erzählung bitter.
Nett aussehen ist kein Kriterium
Ich habe meinen Freund zum Ende meiner Schulzeit kennengelernt. Er war der einzige ältere Mensch, den ich zu diesem Zeitpunkt kannte, und es hat mir ein unglaublich gutes Gefühl gegeben, dass ich an seinem Leben teilnehmen durfte. Auch kurz vor dem Abschluss hatte niemand in meinem Umfeld Kontakt zu tatsächlich studierenden Menschen, und auf einmal durfte ich gleich mehrere davon treffen! Er war kein Mensch mit einem riesigen Kreis von Freund*innen, aber ich durfte schnell zu Veranstaltungen und Treffen der Fachschaft – und stand auch schnell bei Infoveranstaltungen für interessierte Schüler*innen mit dabei. Ich wurde zu einer Person, die ihrem Umfeld die Möglichkeiten eines Studiums erklärte, die Fragen beantworten konnte, Wissen hatte. Es fühlte sich wie eine ziemliche Ehre an, dass alle diese Menschen Zeit mit mir verbringen wollten, und besonders eben mein Freund – den ich ja wirklich viel sah, wie das bei neuen Beziehungen so üblich war (oder mir so erschien). Dass ich nicht nur überallhin mitgenommen wurde, sondern dass das oder meine Aufgaben dort auch mal über meinen Kopf hinweg entschieden wurde, merkte ich schnell. Aber ich fand es okay – immerhin waren gerade große Veranstaltungen oft stressig, und er hatte ja mehr Ahnung und Erfahrung. Es war auch okay, dass wir irgendwie nur über seine Interessen und Erlebnisse sprachen. Er konnte mir ja so viel beibringen! Ihm von meinen Interessen zu erzählen, hatte ich schnell aufgegeben. Es machte wenig Spaß, als übermäßig idealistische und naive Geisteswissenschaftlerin ohne echte Perspektiven bezeichnet zu werden. Aber wir hatten ja gemeinsame Themen, deshalb war es in Ordnung. Ich merkte eben lange nicht, dass diese Themen irgendwie immer nur seine waren.
Der Übergang war schleichend. Von dieser guten Zeit gerieten wir recht schnell in eine Grauzone, in der er sehr viele Dinge tat und sagte, die mir schon zu diesem Zeitpunkt wie etwas Schwieriges vorkamen. Ich hatte nur nicht die Erfahrung, um sie als die Red Flags einzuordnen, die sie waren. Das zur Seite schieben auf Bürgersteigen, wenn uns eine Person entgegenkam, die er nicht eindeutig als weiblich zu identifizieren glaubte. Das Bestehen auf Küsse und Anlehnen und Nähe in der Öffentlichkeit. Und immer wieder: Die Wut, wenn ich es wagte, so etwas zu kritisieren. Schnell fühlte es sich auch genau so an, das zu tun – wie eine Anmaßung. Damit hatte ich schon in dieser Zeit kurz nach dem Beginn der Beziehung etwas Bauchschmerzen. Aber ich sprach mit niemandem darüber. Immerhin zeigten mir alle Medien und der gesellschaftliche Diskurs, dass das hier „doch noch gar nichts“ war. Er schrie mich doch nicht an. Na gut, er wurde laut, aber wenn ich das so nannte, wurde er enttäuscht (was seltsamerweise so klang wie wütend) und betonte immer wieder, dass laut bei ihm etwas anderes war. Inzwischen ordne ich solche Aussagen endlich als das ein, was sie sind – gottverdammte Red Flags – aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich nur mein leises Gefühl und die Stimme meines Umfelds, die immer wieder betonte, was für ein toller, fortschrittlicher Mann er war und dass ich so ein Glück hatte.
Ein langsamer Übergang zu Abuse ist immer noch Abuse
Die nächste Phase begann mit meinem ersten Besuch bei seiner erweiterten Familie nach etwa einem halben Jahr Beziehung. Es war ein eigentlich völlig ereignisloser Besuch – bis er sich plötzlich mit einem gleichaltrigen Verwandten stritt und die beiden es nicht etwa dabei beließen, sich anzuschreien, sondern begannen, sich gegenseitig zu würgen. Bis dahin hatte ich in meiner privilegierten Situation so etwas nur im Fernsehen gesehen – und folgte sofort dem Skript der zuständigen, beruhigenden Freundin, die ihren Körper in den Weg wirft und ihre Sexualität einsetzt, um den Konflikt zu entschärfen. Ich machte auch die folgenden Tage weiter damit, bis wir wieder fuhren, und täuschte Interesse an der Umgebung vor, um meinen Freund aus dieser Wohnung zu bekommen. Ich konnte es mir nicht leisten, früher nach Hause zu fahren, und erst recht nicht, an einem Feiertag spontan eine neue Schlafgelegenheit zu bezahlen. Und irgendwie fühlten sich 95 Prozent von mir immer noch sicher, trotz all der Bilder in meinem Kopf. Vielleicht, weil ich mir etwas vormachte. Vielleicht, weil er sagte, ich wäre ja anders und wichtig und er würde mir nie etwas antun. For the record: Auch das ist eine verdammte Red Flag. Run if you hear it.
Ab diesem Zeitpunkt wurden unsere Streits heftiger. Wahrscheinlich durch mein stärkeres queerfeministisches Engagement und sein immer stärkeres Bedürfnis danach, mich zu kontrollieren. Und relativ schnell begannen die Drohungen. Beim ersten Mal nahm er sie noch zurück und schob sie auf einen schlechten Tag. Dann wurden die Streits zum Ende diverser Gegenstände von mir, die durch die Gegend geworfen wurden. Es wirkte – lautes Anbrüllen und nach mir geworfene Dinge, Einschüchtern und das Verstellen von Fluchtwegen sind eine magische Kombination.
Ich begann, mich nicht mehr zu wehren, wenn er entschied, dass er Sex wollte, wenn ich das gerade nicht wollte. Die Alternative wurde zu gefährlich. Auf verbales Nein reagierte er ohnehin schon länger nicht mehr, gab vor, dass ich doch kinky war und es deshalb so wollen musste. Anfangs versuchte ich noch, ihm das Konzept von Safewords klarzumachen und davon, dass durchaus in vielen kinky Settings Nein immer noch Nein hieß. Es brauchte Monate, bis mir klar wurde, dass es ihm einfach egal war.
Und es brauchte weitere Monate, bis mir das Problem klar wurde. War es nicht normal, dass Männer manchmal schlechte Laune hatten? Dass sie das Bedürfnis nach einer Bestrafung hatten, wenn die für die offene Beziehung verantwortliche Freundin auch nur überlegte, davon Gebrauch zu machen? War es nicht Kinkshaming, ihn davon abzuhalten? Spoiler: Nein. Alles davon war abusive und ungesund. Aber es brauchte neue, erfahrenere Menschen, um mir das beizubringen – Stück für Stück, weil ich sie sonst aus meinem Leben geworfen hätte wie die anderen Freundinnen, die ihn kritisiert hatten und von deren Parties wir beide geflogen waren, weil er antifeministische Kommentare gebracht hatte. Es fiel mir viel zu spät auf, dass auch diese Isolation Absicht war. Und es war wohl ein Grund, weshalb ich weiterhin einen Freund liebte, der mir bei Berichten von Protestformen wie meiner im Radio sagte, diese Leute sollten überfahren werden, damit der Autoverkehr wieder fahren konnte.
Kinky Kontexte und Abuse
Und ich war kinky. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er das seinem ganzen Kreis von Freund*innen und Bekannten erzählt hatte, auch ohne mein Einverständnis. Es war eine Versicherung. Es ist jetzt in seinem ganzen Umfeld bekannt, dass ich kinky bin. Und das könnten sie alle bestätigen, sollte es zu einem Termin vor Gericht kommen.
Ich machte mir zu diesem Zeitpunkt durchaus nicht nur Gedanken, ihn zu verlassen, sondern auch Gedanken, das mit rechtlichen Konsequenzen zu tun. Und ich ließ mich trotzdem weiter verprügeln, angeblich in kinky Settings, weil es sich besser anfühlte, als zu safeworden und mich mit noch mehr Wut über dieses Safewording auseinandersetzen zu müssen. Und ich habe innerhalb der Diskussionen in meiner Umgebung um ein paar Versuche, so etwas vor Gericht zu bringen, miterlebt. Und spätestens dann wusste ich, dass ich nicht klagen würde. Und ja, das ist eine eklige Zustandsbeschreibung unseres Justizsystems. Denn immerhin ist alles vorhanden. Meine Mutter hat die blauen Flecken gesehen – ich habe sie in dem Moment angelogen, aber sie hat mir meine halbherzigen Ausreden nie geglaubt. Und auch wenn sie die Diskussion selbst verdrängt hat, kann sie bestätigen, dass ich eines Tages verheult und voll blauer Flecken bei ihr vor der Tür stand und von der ersten Vergewaltigung erzählte, bei der ich mich körperlich gewehrt habe, bei der es einfach keinen Zweifel mehr gab. Eine gute Freundin von mir hat die Erzählungen früh gehört. Ich habe Bilder von blauen Flecken. Es sind eigentlich genügend Beweise vorhanden. Er sieht das anders. Zwischendurch näherten wir uns wieder etwas an, weil meine Eltern mir nicht glaubten und das wollten (und als Unterhaltszahlende können sie diesen Druck machen). Er sagte ausdrücklich, er hätte mir nie etwas angetan. Ich komme bis heute nicht völlig darüber hinweg, wie stolz das klang. Als sei es ein Achievement. Wahrscheinlich ist es das für ihn sogar (oder eben die Illusion davon).
Nicht Klagen als Versagen?
Ich saß also an diesem Frühstückstisch und habe versucht, kurze Worte für all das zu finden. Aber was soll mensch sagen? „Er erschien mir am Anfang auch so nett wie euch“? „Ich bin durch Popkultur versaut und habe es nicht als Abuse erkannt“? „Er hat mich krank und gestört genannt und mir erfolgreich klargemacht, dass ich ohne ihn nicht durch diesen Lebensabschnitt kommen würde“? Schließlich habe ich mich als kinky geoutet, weil ich den Druck nicht mehr aushielt und meine Eltern als Unterhalt Zahlenden einfach Macht über mich haben. Es macht bis heute einige Dinge awkward zwischen uns. Aber langsam gibt es weniger Nachfragen, wenn ich spezifische Orte in ihrer Umgebung vermeide. Oder die Uni.
Denn Nein, ich werde wohl nicht mehr die Kraft haben, ihn zu verklagen. Alles, was ich tun kann, ist warnen. Und selbst das traue ich mich nicht so öffentlich. Ich brauche Abstand. Und vielleicht komme ich so irgendwann damit klar. Ich fürchte, ich kann der gesamten Gesellschaft da keinen Dienst mehr tun.