Content Note: es werden sexistische, rassistische, sexualisiert-gewalttätige, transfeindliche und andere diskriminierende Kommentare beispielhaft im Text eingewoben.
Die Namen sind fiktiv.
Der Tagesablauf und die Twittermeldungen sind beispielhaft.
6:30
Der Wecker klingelt das erste Mal.
Bevor R2D2 nicht gepiept hat, denke ich nicht mal über Aufstehen nach.
7:00
R2D2 piept.
Loki springt aufs Bett.
Er weiß ganz genau, wann ich wirklich anmauzbar bin.
Außerdem ist 7:00 seine Frühstückszeit.
Auch wenn er nur kurz dran schnuppert, er besteht auf Pünktlichkeit.
Meistens.
Ich hieve mich ächzend aus dem Bett.
Ich fühle mich wie gerädert.
Bin ich wirklich erst 33?
7:15
Ich bin mit Kaffee auf die Couch umgezogen.
Loki stromert durch die Wohnung auf der Suche nach weiteren Kleinoden, die er zum Spielzeug umzaubern kann.
Das kann er gut.
Zaubern.
Das Innere meines Schädels fühlt sich noch ein wenig nach geschüttelter Götterspeise an.
Ich starte den Laptop.
Ich bin so verdammt müde.
Eigentlich wollte ich heute morgen endlich Sport machen.
Ich nehme es mir jeden Abend aufs Neue vor, jedes Mal aufs Neue meine morgendliche übermenschliche Müdigkeit unterschätzend.
Windows ist da.
Erstmal Musik an.
Auf Instagram ist nicht viel passiert.
Neue Likes.
Neue Profilaufrufe.
Sind es mehr als gestern?
Facebook ist schon lange tot.
Ich öffne Twitter.
Es scheint auch noch im Bett zu dösen.
Nicht mehr lange, vielleicht noch eine halbe, dreiviertel Stunde, dann geht der Zirkus los.
Ich mache mir einen zweiten Pott Kaffee.
8:00
Zwischenzeitlich war ich duschen.
Ich sitze, mein nasses Haar in ein buntes Handtuch eingewickelt, im Schneidersitz vor dem Laptop.
Heute soll noch eine Rezension online gehen, die will ich fertig tippen.
Loki liegt zusammengerollt in meinem Schoß und schläft.
Nebenbei immer der Blick auf Twitter.
Twitter ist mein wichtigster Nachrichtenfeed.
Brand von Notre Dame? Wusste ich von Twitter.
Merkels Zitteranfälle? Twitter.
Aktuellste Ausfälle der AfD? Twitter weiß es zuerst.
Aber das sind die harmlosen Nachrichten.
Sie betreffen mich mal mehr, mal weniger, haben aber im Grunde keinen Einfluss auf meinen Puls.
Twitter ist nicht nur für “große” Nachrichten eine meiner ersten Anlaufstellen.
Wenn ich wissen will, was feministisch und gesellschaftlich gerade wichtig ist, ist Twitter unverzichtbar.
Ich setze einen Tweet ab, wie ich mich nach meinem Flashback gestern Abend fühle.
Ich bekomme Zuspruch, Umarmungen.
Von Menschen, die ich teilweise noch nie gesehen habe.
Internetfreundschaften sind anders als Offlinefreundschaften, aber sie funktionieren nahezu identisch.
Man erzählt mir einen Flachwitz.
Zieht immer.
Mein Humor ist so anspruchslos wie ein Löwenzahn.
Geil, Asphalt, ich wachse hier!
8:45
Rezension ist fertig.
Fotos hochgeladen und eingefügt.
Rezension geht online und wird geteilt.
Auf meinen Tweet vorhin hat ein BigMarkus02591B4 geantwortet.
„Kannst mit einem richtigen Schwanz wohl nicht umgehen!”
Ich schlucke.
Ich melde den Tweet, das Profil, blocke.
Loki streckt sich in meinem Schoß.
Er maunzt mich an.
Er will auf den Balkon.
Heute nicht.
Es stürmt.
9:15
Unter einem anderen Tweet zum Thema Geflüchtete und Mittelmeer tummeln sich ein paar Trolle.
Die Sonne scheint, sollten sie nicht zu Stein erstarren?
Sie wünschen der Twitter Userin, dass sie mal Besuch von den Geflüchteten bekäme.
Man würde ja sehen, ob sie die Menschen dann immer noch so willkommen hieße.
Gillette hat eine neue Werbung veröffentlicht.
Inhalt: ein Vater zeigt seinem trans Sohn, wie man sich rasiert.
Ich mag die Werbung.
Ich freue mich, dass eine große Firma Transidentität aufgreift.
Das Thema bekommt so mehr Aufmerksamkeit.
Ich überlege, ob ich mir die Kommentare angucken möchte.
Ach, warum nicht?
Ich fühle mich nicht emotional ausgelaugt.
Ich hätte es lassen sollen.
Ich fühle mich emotional ausgelaugt.
9:30
Es ist immer noch wie in den letzten Wochen.
Demos.
Vernetzungstreffen.
Politische Vorträge.
Artikel.
Diskussionen im Internet.
Warum wollen so viele Menschen, dass die Welt so bleibt wie sie ist?
So diskriminierend, ausschließend, lebensgefährlich für die meisten Menschen?
Ich bin so müde.
Unter meinem Tweet von vorhin sammeln sich mehr Trolle.
Ich war nicht schnell genug mit dem Blocken.
RustyDerClown schreibt: „Ja, so ist die Generation Millennium nun mal. Total verweichlicht. Alles ist zu viel und alles ist ein Trigger.”
Ich verzichte darauf, ihm zu erklären, was ein Trauma ist.
BorstiKorsti fragt, ob ich Angst vor Penissen habe.
In Gedanken korrigiere ich auf „Penes”, auch wenn ich weiß, dass beide Plurale erlaubt sind.
StefanKalloschmidt fragt, ob bei meiner Vergewaltigung ein Kondom verwendet wurde. Wenn ja, kann es ja keine Vergewaltigung gewesen sein.1
Ich breche in Tränen aus.
10:00
Mir ist schlecht.
Ich blocke schneller als Captain Picard „Energie!” sagen kann.
Woanders will ich diskutieren.
Erklären, warum Frauen in der Rente benachteiligt sind.3
Dass es bei den derzeitigen Rentnerinnen nicht notwendigerweise eine freie Willensentscheidung war, keine Arbeit zu haben.
Ein nächster Tweet.
Irgendein CDU/CSU/AfD-Politiker fordert Sonderschulen für Kinder aus Familien, die Hartz IV beziehen.2
Wie kann sich ein Politiker für die weitere Spaltung der Gesellschaft einsetzen?
Ach so, Moment.
Politiker.
Sorry, mein Fehler.
10:15
Draußen schüttet es wie aus Eimern.
Loki sitzt auf der Fensterbank und bewacht die Nachbarschaft.
Nicht, dass da noch jemand wegfliegt.
Ich beobachte ihn beim Beobachten.
Mein Puls wird wieder ruhiger.
Er kann eben zaubern.
10:20
AfD liegt in Sachsen bei 24 %.
Wir müssen was tun.
Wer ist wir?
Können wir was tun?
Was können wir tun?
Ich will nicht, dass Hitlers geistige Nachkommen so viel Macht bekommen.
In Sachsen-Anhalt werden drei Polizisten freigesprochen.
Sie sollen Nazi Devotionalia besitzen und im Einsatz den Hitlergruß gezeigt haben.
Einen sich in Gewahrsam genommenen Schwarzen sollen sie krankenhausreif geschlagen haben.
Freispruch.
Das eine sei Privatsache.
Das andere sei nicht nachzuweisen, es gebe keine Zeugen.
Das letzte war ein bedauerlicher Unfall.
Der Mann hätte sich gewehrt und sei unglücklich gefallen.
Die Kommentare darunter.
Oh Gott, die Kommentare darunter.
In meiner Brust breitet sich Ohnmacht aus.
10:50
Ich rufe meine beste Freundin an.
Sie fragt, warum ich keine Twitterpause mache.
„Weil ich das nicht so stehen lassen will!”
„Aber es macht dich kaputt. Du fühlst dich scheiße!”
„Ja, aber ich kann meinen Mund aufmachen. Viele andere können das nicht.”
Nicht ohne sich in wirkliche, reale Gefahr zu begeben, denke ich.
„Du bist nicht Wonder Woman. Du brauchst auch Pausen.”
„Ich kann nicht zugucken, wenn Freundinnen von mir rassistisch beleidigt werden.
Oder trans Aktivistinnen wieder Morddrohungen bekommen, einfach weil sie existieren.
Oder wenn ein Vergewaltiger freigesprochen wird, weil sein Opfer einen Spitzentanga trug, von dem er nichts wissen konnte, es aber als Zeichen gewertet wurde, dass sie es ja wollte.”
Ich schluchze.
„Und hast du die Umfrageerte der AfD in Sachsen gesehen?”
„…hast du heute frei?”
„Ja. Morgen auch.”
„Du machst jetzt Netflix an.
Und kochst dir Vanillepudding.
Dann schnappst du dir Loki zum Kuscheln.
Du hast mir mal von Aktivismus-Burnout erzählt.
Das klingt sehr danach.
Du machst Pause.
Wenn du dich so sehr verausgabst, für wen willst du dann noch kämpfen?
In 3 Monaten?
In 3 Jahren?
Auch Super Aktivistinnen brauchen Verschnaufpausen.
Und das ist nichts Verwerfliches.
Das ist menschlich.
Achte auf dich!”
Es gibt einen Grund, warum sie den Titel Beste Freundin trägt.
11:15
Eine Schüssel frischer Vanillepudding liegt auf meinem Bauch.
Es ist so warm.
Fast unangenehm.
Loki pütschert an seinem Brunnen rum.
Ich muss kichern.
Trotz all der explosiven Verbaldiarrhoe, die auf Twitter in Strömen fließt.
Ich sag doch, Loki kann zaubern.
Ich mache Criminal Minds an.
Ich kann gerade keine Bösen jagen.
Aber ich kann anderen dabei zuschauen.
Auch Super Aktivistinnen brauchen mal Pause.
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1 Zum Mythos “Mit Kondom ist es keine Vergewaltigung” siehe auch hier: „Rape Cul…was?“ – Was ist diese ominöse Rape Culture?
2 Achtung, fiktive Meldung!
3 Um Missverständnissen vorzubeugen: in dem damaligen Tweet ging es um cis Rentnerinnen, die wenig bis gar nicht gearbeitet haben, da sie sich um die Kinder gekümmert haben – oder schlichtweg nicht die Erlaubnis Ihres Mannes für die Aufnahme einer Arbeit bekamen. Dass auch andere Menschen in der Rente benachteiligt sind steht außer Frage!