[Disclaimer: Der Begriff „starke Frau“ wird hier als feststehender Begriff in Anführungszeichen gesetzt.]
[Disclaimer 2: In diesem Artikel wird der Begriff „weiblich gelesene Personen“ verwendet. Zum einen, da das gesellschaftliche Problem keine Rücksicht auf das eigentliche Geschlecht der Person nimmt (daher weiblich gelesen, weil bspw. trans Männer und Enbys gewaltsam in dieses Klischee gepresst werden), die Erwartungen aber auch an Frauen gestellt wird, die in den Augen der Gesellschaft kein Passing haben. Ich hoffe, es wird deutlich, warum ich diese Formulierung gewählt habe.]
„Die Welt braucht mehr Räubertöchter und weniger Annikas.”
Dieser Spruch in Anlehnung an zwei bekannte Figuren Astrid Lindgrens, Ronja Räubertocher und Annika Settergren aus Pippi Langstrumpf, taucht immer wieder auf Sammelseiten vermeintlich cooler Sprüche auf. (Cis) Frauen feiern ihn, keine will eine Annika sein, Räubertöchter sind ja schon irgendwie cooler als die überängstliche, wohlerzogene Freundin Pippi Langstrumpfs, die Risiken hasst und am liebsten in ihrer sicheren Umgebung bleibt. Und viele derer, die den Spruch feiern, nennen sich selbst Feminist*in.
Ich mag diesen Spruch nicht. Er sagt überdeutlich, dass eine bestimmte Art Frau, Mädchen, weiblich gelesene Person nicht gut genug ist, vielleicht sogar schädlich für die Welt, und dass ihr Gegenpart wünschenswerter ist. Räubertochter ist in dem Spruch Platzhalter für den Begriff „starke Frau“, dem ich meistens skeptisch gegenüber stehe. Klar, ich fühle mich geschmeichelt, wenn mich jemand so nennt. Aber „stark“ hat auch immer den negativen Gegenpart „schwach“, und schwach wird niemand gerne genannt.
„Starke Frauen“? Was soll das sein?
Der Begriff „starke Frau“ weckt automatisch Assoziationen von bestimmten Charaktereigenschaften: Unabhängigkeit, Toughness, Selbstbewusstsein, Meinungsstärke und diese auch laut vertreten können. Eine oberflächliche Googlesuche bestätigt nicht nur diese Eigenschaften, sondern zählt u.a. auch sexuelles Selbstbewusstsein hinzu.
Es sind auffallend alles Eigenschaften, die, patriarchaler Prägung sei Dank, vornehmlich cis Männern zugeschrieben werden. Der ganze Komplex aus Begriff und der eigentlichen Transferierung von gesellschaftlich cis Männern vorbehaltenen Begriffen auf Frauen und weiblich gelesene Personen birgt eine ganze Reihe von Problematiken.
Frauen sind nur dann „stark“, wenn sie gesellschaftlich-traditionell cis männliche Verhaltensweisen an den Tag legen
Folgt man den allgemein verbreiteten Bildern einer „starken Frau“, so weisen Aufzählungen, was eine Frau oder weiblich gelesene Person zu einer eben solchen macht, vor allem die oben genannten Charakteristika auf. Was die meisten zunächst nicht sehen ist, dass im Grunde Charaktereigenschaften auf Frauen und weiblich gelesene Personen übertragen werden, die bisher vornehmlich für cis Männer, speziell sog. Alphatiere, galten. Sogar die angeblich negativen Seiten „starker Frauen“ sind im Grunde an das Klischee des cis Mannes angelehnt, wie ein Artikel zeigt. „Stark“ wird also auch in Bezug auf „Frau“ immer noch über cis männliches Verhalten definiert. Je vermeintlich cis männlicher das Verhalten einer Frau oder weiblich gelesenen Person, als desto „stärker“ scheint sie zu gelten.
Im ersten Moment mag man sich fragen, warum nicht einfach gesellschaftlich-traditionell weiblich wahrgenommene Eigenschaften als stark angesehen werden. Dieser Schritt bedient allerdings nur patriarchale Strukturen und das binäre Geschlechtersystem.
Verhalten hat kein Geschlecht!
Viel wichtiger ist es zu erkennen, dass Charaktereigenschaften ganz allgemein geschlechtslos sind, egal um welche es sich handelt. In dem Moment, in dem man Charaktereigenschaften vornehmlich einem Geschlecht zuschreibt, schafft man Schubladen. Entspricht eine Frau oder weiblich gelesener Mensch nicht dem Klischee einer cis Frau, wird diese Person auf diese Diskrepanz sofort aufmerksam gemacht: „Du bist ganz schön burschikos“ oder „Du sitzt da wie ein Bauer“ oder „Bist du ein Mannsweib?“ sind nur drei Beispiele aus einem schier endlosen Fundus.
Umgekehrt ist es übrigens genauso. Während selbstbewusst auftretende Frauen und weiblich gelesene Personen gerne als burschikos bezeichnet werden, dürfen sich männlich gelesene Personen anhören, sie seien weinerlich oder ein Weichei, sollten sie Gefühle zeigen. So als Beispiel.
Die meisten Charaktereigenschaften sind an sich übrigens nicht eindeutig gut oder schlecht, stark oder schwach. Meistens kommt es auf Kontext und Perspektive an. „Können sieht nur von unten aus wie Arroganz.“
„Starke Frau“? Bin ich. Du aber auch!
„Die Welt braucht mehr Räubertöchter und weniger Anikas.” gilt als ach so emanzipatorisch und feministisch. Und er ist alles andere als das. Während früher laute Frauen und weiblich gelesene Personen in der Gesellschaft als unschicklich galten, sind es nun die stillen Frauen und weiblich gelesenen Person, die ein geordnetes Leben einem abenteuerlichen vorziehen, als die Langweiler*innen der Nation. Wieder stehen Frauen und weiblich gelesene Personen nicht Seite an Seite, sondern eine Gruppe, in diesem Fall „Die Anikas“, wird wieder der Meute vorgeworfen.
Mir werden nahezu alle oben beschriebenen Charaktereigenschaften einer sog. „starken Frau“ zugeschrieben, und ich sehe sie auch selbst an mir. Macht mich das zu einer „starken Frau“? Und vor allem: macht es leisere weiblich gelesene Personen, welche mit weniger Selbstbewusstsein, einem stärkeren Sicherheitsbedürfnis oder weniger ausgeprägter Libido schwächer? Und in dieser Konnotation weniger beachtenswert, belächelbar?
Hell no!
Wie oben erwähnt bekommen Charaktereigenschaften durch Kontext und Perspektive ihre Konnotation und Bewertung. Und wenn in einer Situation die Räubertochter mit ihren Stärken gebraucht wird, kann sie in einer anderen Situation nichts ausrichten, in der aber wiederum die Stärken Annikas zu Tage treten.
Eine diverse, abwechslungsreiche, schöne Gesellschaft und Welt braucht nicht nur Räubertöchter, sondern eben auch die Annikas. Und Maditas und Lottas und Pippis, kleine Hexen, Pünktchens, Baba Jagas, Gretels, Georges, Hermines und wie sie alle heißen.