Am zehnten Zehnten haben zwei Menschen den Literaturnobelpreis bekommen. Olga Tokarczuk für 2018 und Peter Handke für 2019. In der Geschichte des seit 1901 vergebenen Preises ist die Polin damit erst die fünfzehnte Frau, der er verliehen wird. Das allein bedürfte einer kleinen Auffrischung in der Debatte, warum Autorinnen systematisch benachteiligt wurden und immer noch werden. Dass Tokarczuk in der Diskussion um Peter Handke in der deutschsprachigen Öffentlichkeit sang und klanglos hintenangestellt wird, ist eine regelrechte Frechheit.
Einige renommierte Zeitungen und Magazine können im Artikel zum Literaturnobelpreis kaum mehr über diese Autorin erzählen, als einen knappen biografischen Rahmen, der sich auf Wikipedia recherchieren lässt (geboren am 29.01.1962 in Sulechów, Psychologin) und dass sie in ihrem Schreiben politisch aktiv ist. Dazu kommt die Relativierung ihres Werkes, wenn Artikel von ihm, dem Preisträger, mit Nachnamen sprechen, sie aber nur „Olga“ bleibt. Neben der umfassenden Berichterstattung des Preisträgers für 2019 wird Tokarczuk nicht nur vernachlässigt, sondern es offenbart sich eine mehrschichtige Ignoranz unserer Gesellschaft.
drei Nachteile
Handke hat drei Vorteile gegenüber Tokarczuk. Er ist älter und hat auch darum mehr Veröffentlichungen, er ist Österreicher und seine Werke haben es längst in die Hauptseminare von Germanistikstudiengängen geschafft, und er ist ein Mann. Olga Tokarczuk dagegen ist den Literat:innen Deutschlands zwar keine Unbekannte, doch viele ihrer Texte sind nicht einmal übersetzt, sie gilt – oder galt – noch als Geheimtipp. Dass die deutschsprachige Wahrnehmung sich auf Handke konzentriert, ist darum auch eine Sache von Nationalität und Sprachgrenzen.
Gleichzeitig haben Autorinnen es schwerer, übersetzt zu werden, weil ihre Bücher schnell als für eine kleinere Zielgruppe wahrgenommen werden. Frauenzählen zeigt die geringe Aufmerksamkeit für Autorinnen bei Rezensionen, #frauenlesen und #wirlesenFrauen sind Aktionen, um Autorinnen bekannter zu machen. Denn Verlage setzen auf Männer, vornehmlich alt und weiß. Der Kampa Verlag, der Tokarczuks Bücher auf Deutsch herausgebracht hat, ist jung. Erst im Herbst 2018 hat er sein erstes Programm vorgestellt. Dass die deutschen Übersetzungen von Tokarczuks Werke aktuell vergriffen sind, ist eine kleine Erfolgsgeschichte.
klare Wertung
Grotesk dagegen mutet an, dass das Komitee des Literaturnobelpreis nach dem Skandal im vergangenen Jahr selbst dafür gesorgt hat, die Wertung zwischen Tokarczuk und Handke ungleich zu verteilen. Handke ist der aktuelle Preisträger, Tokarczuk bekommt den Preis für das vergangene Jahr. Dass Handke nicht nur die Beschuldigung, er habe seine Ex-Frau geschlagen, mit der Begründung abtut, er hätte eben arbeiten müssen, und die Kritik an seinen öffentlichen Äußerungen mit einer fadenscheinigen Berufung auf ein literarisches Erbe entkräften will, erfährt angesichts der Umstände, die 2018 dafür gesorgt haben, dass der Preis nicht vergeben wurde, einen Aussagewert für sich. Er ist der Preisträger, der nicht mehr mit den kritisch fragenden Journalist:innen reden will. Tokarczuk ist die, mit der die Journalist:innen gar nicht erst reden.
Olga Tokarczuk
Dabei hat sie viel zu sagen. Ihre Eltern mussten ihre Heimat nach dem zweiten Weltkrieg verlassen. Heute hat sie Familie in Donezk in der östlichen Ukraine, wo noch immer gekämpft wird. In einem Interview mit dem Spiegel von 2014 beschreibt sie eine Angst in Polen, das über die Köpfe der Menschen hinweg die Zukunft des Landes entschieden werde. Auf der Frankfurter Buchmesse zweifelte sie daran, dass Schriftsteller:innen den Herausforderungen, die die Gegenwart an sie stellt, gewachsen sind. Die Orientierungspunkte gehen verloren, so Tokarczuk. Starke Worte für eine Literaturnobelpreisträgerin, die eine Sprachkrise in der Literatur vermuten.
Was können wir noch sagen, wenn uns keiner hört? Wenn kein Wort stark oder schnell genug ist, falsche Entscheidungen zu verhindern? Die Welt lässt sich nicht mehr beschreiben. Dass sie seit Jahren gegen diese Ohnmacht anschreibt, immer wieder aufrüttelt und aufzeigt, gibt ihr das, was eine:n Literaturnobelpreisträger:in ausmacht. Den Mut, das Bestehende zu dekonstruieren und zu kritisieren, und das Durchhaltevermögen, es immer wieder zu tun. In ihrer Kritik an den politischen Entscheidungen in ihrem Land und die ihrem permanenten Einsatz mittels Literatur die Menschen wachzurütteln zeigt sich eine unerschütterliche Hoffnung. Olga Tokarczuk ist eine mutige Frau, eine großartige Schriftstellerin, die hinter niemandem versteckt bleiben sollte.
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Frisch erschienen auf dem deutschen Buchmarkt sind ihre „Jakobsbücher”, ein Werk von über 1000 Seiten, das sich kritisch mit der idealisierten Vorstellung von Polen im 18ten Jahrhundert auseinandersetzt und dabei direkt Henryk Sienkiewicz mitkritisiert, einen weiteren Literaturnobelpreisträger aus Polen. Die Verklärung zu enttarnen und dabei den Bogen zum polnischen Nationalismus zu schlagen ist ein nachdenkliches Stimmungsbild des Europas unserer Zeit. Ihr Buch „Unrast” hat bereits den Man Booker International Prize im vergangenen Jahr bekommen. Dort geht sie bewusst über Grenzen, überschreitet zeitliche und räumliche Vorgaben und schafft eine neue Art von Literatur.
Eben jene Grenzen sind es, die sie immer wieder in ihren Werken neu auslotet. Körper und Geist, Ort und Zeit, Heimat und Enge – große Paare der Literatur erfahren bei Olga Tokarczuk neue Möglichkeiten. So auch in „Ur und andere Zeiten”, in dem Erzengel ein polnisches Dorf bewachen, oder in „Der Gesang der Fledermäuse”, bei dem Ort und Heimat in Verbindung mit Natur neue Bedeutungen erhalten. Das Kritische, Politische schwingt immer mit, doch vor allem das Poetische ist es, das ihre Werke auszeichnet. Nicht verwunderlich also, dass sie den Nobelpreis mit einer Begründung bekommt, der jene Paradigmenwechsel vor Augen hat, der ihren Büchern zu eigen ist. „For a narrative imagination that with encyclopedic passion represents the crossing of boundaries as a form of life”.