Ein Gastbeitrag von Judith C. Vogt*
Viele Nerd-Subkulturen sind männlich dominiert, und das nicht einmal aus bösem Willen oder aktivem Gatekeeping: Im Gegensatz zur Videogamer-Szene hatte ich immer den Eindruck, dass nicht-männliche Beiträge zu meinem Lieblingshobby sogar gezielt gesucht und Frauen darauf angesprochen werden. So war es zum Beispiel am Anfang der Zeit, in der ich zusammen mit meinem Partner Christian freiberuflich für Das Schwarze Auge geschrieben habe, ein Running Gag, Christian auf Con-Gästelisten als „Judiths Mann“ zu hinterlegen. (Er hat sogar noch ein RatCon-Namensschild mit dieser Bezeichnung.)
Frauen, nicht-binäre und inter Menschen im P&P-Rollenspiel werden also nicht unbedingt bewusst mit Gatekeeping ferngehalten. Dennoch ist Gatekeeping in der Nerd-Kultur eine typische Begleiterscheinung und macht auch vor der Pen&Paper-Szene nicht halt.
„Frauen interessieren sich eben nicht dafür!“
Das Pen&Paper-Rollenspiel entstand in den späten 1960ern und frühen 1970ern aus den „Wargames“, Miniatur-Strategiespielen, mit denen erst berühmte Schlachten und zunehmend fiktive Kriege nachgespielt wurden und die schließlich in den klassischen Dungeon verlegt wurden. Auch bei den Wargames haben bereits Frauen mitgemischt. Weil überall immer Frauen mitgemischt haben, das systematische Verschweigen ist lediglich eine Masche kultureller Marginalisierung, thank you very much. Spiele wie H.G. Wells‘ „Little Wars“ warben sogar damit, dass sie sich an Jungs und „jene intelligentere Sorte Mädchen“ richten, „die Bücher und Spiele für Jungs mögen“[1]. Eine frühe Zementierung des „She’s one of the boys“-tropes also.
Während bei den frühen Rollenspielen noch darüber diskutiert wurde, ob weibliche Charaktere Mali bei körperlicher Stärke und Boni bei Werten, die auf Verführung und gutes Aussehen abzielen, bekommen sollen, bürgerte sich dennoch relativ rasch ein, dass in der Auswahl der Charaktere die Wahl des Geschlechts frei ist (wenn auch binär) und in den meisten Systemen weder Boni noch Mali mit sich bringt. Es etablierten sich auch rasch Spielwelten wie Aventurien (Das Schwarze Auge), in denen nominell Gleichberechtigung herrscht.
In den 1990ern wurde das Prinzip „Heldengruppe zieht in ein Abenteuer, tötet Monster und erhält Schätze“ (das es natürlich neben der Fantasy-Variante auch in den Varianten Space Opera und Cyberpunk gab) um Spiele wie die der „World of Darkness“ erweitert, bei der man nicht nur äußere Konflikte ausficht, sondern zudem das Monster in sich selbst bekämpft. Mit diesen Spielen zogen nun scharenweise junge Frauen ins Rollenspiel ein – ich bin eine davon und bin mit der 2. Edition von „Vampire – The Masquerade“ 1998 Hals über Kopf in die Welt der Rollenspiele eingetaucht und nie wieder daraus hervorgekommen.
Und dennoch – bei „scharenweise“ (die Formulierung basiert übrigens auf einer Reddit-Äußerung des Vampire-Designers Mark Rein-Hagen[2]) sprechen wir im deutschsprachigen Raum von einem Verhältnis von höchstens einem Drittel. Es ist schwer zu sagen, weil Frauen, nicht-binäre und inter Menschen auf Cons und auch in den Redaktionen und im Impressum der meisten Rollenspielbände immer noch unterrepräsentiert sind und es in dem Bereich keine wirklichen Marktstudien gibt, von Online-Umfragen einzelner Verlage einmal abgesehen.
Frau in der Rollenspielszene zu sein war jahrzehntelang beinahe so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal – Serien wie „The Big Bang Theory“ haben auch außerhalb der Szene zementiert, dass sich Frauen, selbst die von der nerdigen Sorte, nicht für dieses Hobby interessieren, dass es eine infantile Beschäftigung für Männer ist, die nicht erwachsen werden wollen. Diese Darstellung rüttelte natürlich auch am Selbstbild rollenspielender Männer: Viele Rollenspieler berichten, dass sie selbst als Nerds in der Schule und auch später noch diskriminiert wurden, was immer wieder als Argument angeführt wird, weshalb die Szene selbst diskriminierungsfrei sei (Spoiler: Ist sie nicht. Aber um die heilige Kuh des „diskriminierten Nerds“ ausführlich anzugehen, bräuchte es einen eigenen Artikel.).
Viele Rollenspielrunden sind mindestens männlich dominiert, wenn nicht komplett männlich – es gibt nicht zuletzt auch innerhalb der Szene das trope der „einen Frau“ in einer Gruppe von Männern. Lange Zeit war das vorherrschende Vorurteil, dass die meisten Frauen sich „eben“ nicht für dieses Hobby interessieren, dass Fantasy nichts für sie sei, dass die Regeln sie abschreckten oder generell Rollenspiel für erwachsene Frauen „zu nerdig“ sei. Und natürlich ist das nicht nur Gatekeeping von innen – es ist auch struktureller Sexismus, my old friend, der vielen erwachsenen Frauen einflüstert, dass Spielen keine Beschäftigung mehr ist, wenn es dabei nicht mindestens um die eigenen Kinder geht.
Die Rollenspielerinnen, die im Hobby geblieben sind, sind damit sozialisiert, sich als „one of the boys“ zu fühlen und zu identifizieren, es macht einen großen Teil unseres Selbstbilds aus – es gibt sogar RPGs, die damit spielen, dass die ganze Gruppe „crossgendert“, also Charaktere des (binär) anderen Geschlechts spielt, wie zum Beispiel das Spiel „Kagematsu“.
Das Rollenbild im Rollenspiel
Woran liegt es, dass wir keinen höheren Frauenanteil im Hobby haben? Liegt es daran, dass wir gesellschaftlich Männern eher „Infantilität“ und Eskapismus zugestehen? Die Man Cave, in der der Mann halt seinen Hobbys frönen kann, sein Lego aufbauen, seine Männchen über Hexfelder schubsen, seine Freunde in den Dungeon führen kann? So einen Rückzugsraum ins Spielerische billigen wir gesellschaftlich eher Männern zu; Frauen können sich doch einfach ihre Yoga-Matte irgendwo ausrollen! (Versteht mich nicht falsch – ich mache auch Yoga.)
Zementiert wurde das Ganze (und wird vielfach immer noch) vom sexualisierten Frauenbild, das auch Systeme transportieren, in denen Gleichberechtigung herrscht. Legendär sind Bilder muskelbepackter, gerüsteter Krieger, geschickter Diebe und berobter Magier auf Covern, die von knapp bekleideten, Boob-Armor-tragenden Amazonen, sexy Elfen oder Hexen mit hochgeschlitzten Kleidern und verboten tiefen Ausschnitten begleitet wurden. Ich muss wohl kaum sagen, dass diese Covergirls (meist auch nur eins unter drei bis vier Männern, die klassische Rollenspielgruppe widerspiegelnd) nicht dazu da sind, Frauen ins Hobby zu bringen, das Interesse von Frauen zu wecken oder interessante Rollenbilder abgeben. Diese Covergirls sind rein für den männlichen Blick da, sie wecken die Freude der Nerd-Jungs und -Männer. Die Spielwelten mögen nominell gleichberechtigt sein – aber sie wurden nie wirklich „feministisch durchdacht“.
Wir müssen Spiele feministisch denken
Was würde es heißen, wenn in einer fantastischen Welt alle Geschlechter gleichberechtigt wären? Oft bedienen sich die Spielwelten am Mittelalter – wie könnten wir ein Mittelalter denken, das keinen Unterschied zwischen Söhnen und Töchtern, zwischen Müttern und Vätern macht? Ein Mittelalter, das vielleicht sogar andere Geschlechter anerkennt? Und wenn wir einmal dabei sind: Können wir uns eine fantastische Welt vorstellen, in der sogar die Diskriminierung queerer Menschen nicht stattfindet?
Fantasy-Mittelalter – nein, jedes Mittelalter-Bild – ist immer eine Fiktion, die wir durch die Linse unserer Zeit sehen. Wir fantasieren viel Biedermeier hinein und Kaiserzeit, viel an Bildern von Geschlecht, Familie, gesetzlich verbotener, weil „wehrkraftzersetzender“ Homosexualität, kolonialistischem Weltbild, die sehr viel später als das Mittelalter entstanden sind. Wir beeinflussen also unser Bild vom Mittelalter bereits mit unseren „moderneren“ Ideen von Hierarchien, Gesetzen und menschlichem Zusammenleben der Neuzeit.
Um eine Fantasywelt feministisch zu denken, hilft es nicht, „einfach ’ne Frau draufzupappen“. Mit diesem Ausdruck beziehe ich mich auf Avery Alder, die queere anarchokommunistische Spieldesigner-Ikone, die in ihrem Talk über queeres Spieldesign sagte: „Man kann nicht einfach ’nen Schwulen draufpappen“[3]. Dieses Draufpappen hilft auch bei feministischem Spieldesign nicht.
Denn um Feminismus im Rollenspiel zu denken, müssen wir uns ansehen, welches Weltbild unter der Spielwelt liegt, ob einfach in unserer generischen Vorstellung vom Mittelalter die eine oder andere Rolle „gegenderswapped“ wurde. In einer Welt, in der wahrhaft Gleichberechtigung herrschen würde: Wer würde sich um die Kinder kümmern und wie? Wie würde menschliches Zusammenleben organisiert, wenn das Zusammenleben als Kernfamilie eigentlich keinen Sinn mehr ergibt? Wer würde herrschen und warum? Wie wichtig wäre Geburtsrecht, und was würde das mit dem Status derer machen, die die Kinder austragen und somit immer leibliches Elternteil wären? Gäbe es binär unterschiedliche Kleidung? Was würde Gleichberechtigung mit dem Klerus machen? Ich habe Fragen!
Und damit nicht genug: Wir müssen auch einen Blick in die Regeln des Spiels werfen. Wieviel postkoloniales, hierarchisches, kapitalistisches, patriarchales Gedankengut transportieren sie? Wie sehr geht es darin um Ressourcen, um Leistung, um Profit aus Ausbeutung anderer (und wenn es nur Orks und Dungeonbewohnende sind)? Wie können wir das ändern? Wie können wir das Schwarz-Weiß-Denken aus den Regeln nehmen?
Antworten auf diese Fragen und viele weitere zu finden, kann Stoff für die Rollenspiele der Zukunft bedeuten, kann Rollenspiel aus der Szene heraus gesellschaftlich relevant machen, kann als Gedankenexperiment utopistische Kraft entwickeln!
Denn Rollenspiel ist großartig!
Während in den meisten Fantasy-Romanen der Fokus auf der Heldenreise eines*r Einzelnen liegt, erleben wir im Rollenspiel bereits seit Jahrzehnten Abenteuer als Team und können dort schon lange nicht mehr nur Dungeons nach Schätzen durchwühlen, sondern längst gesellschaftlich relevante Themen bearbeiten. Sogar in den althergebrachten Fantasy-Systemen stellen sich Fragen nach gerechter Herrschaft, nach Herrschaftsformen, nach den Auswirkungen von Kriegen, Sklaverei und vielem mehr. Dazu kommen Rollenspiele, die die Mittelalter-Fantasy längst verlassen haben – in denen man beispielsweise die verschiedenen psychischen Facetten einer traumatisierten Frau spielt („Bluebeard’s Bride“), sich cthulhueskem Horror zur Zeit der racial segregation in den USA stellt („Harlem Unbound“), in Kurzspielen neue Perspektiven feministischen Denkens erschließt (die Anthologie „#Feminism“) oder in dem von mir immer wieder als revolutionierende Erfahrung vorgestellten „The Abortionists“ die verschworene Gemeinschaft dreier Feministinnen im Chicago der Siebziger erfährt.
Rollenspiele sind längst kein Eskapismus mehr, sondern sind dabei, sich gesellschaftlich zu „emanzipieren“ – und zwar auch maßgeblich durch die hinzugekommenen, lauter werdenden Stimmen von weiblichen, nicht-binären und queeren Spieldesigner:innen und Spieldesigner:innen of Color.
Ohne Own-Voices geht es nicht
Denn in der Rollenspielszene wie in allen anderen Szenen auch bringt es nichts, wenn die alten Hasen lediglich neue Perspektiven einnehmen und dazu besonders fleißig recherchieren. Kulturelle Marginalisierung lässt sich nur aufheben, indem man die Stimmen Marginalisierter hörbar macht, indem wir uns stark machen für andere. Etwas, das die Rollenspielszene eigentlich gut kann, denn wenige Subkulturen machen es „Konsumierenden“ so einfach, die Rollen zu tauschen, selbst kreativ zu werden und unter die „Erschaffenden“ zu gehen. Wettbewerbe, On-Demand-Plattformen, Twitter, Kickstarter, itch.io, Foren und andere Diskussionsplattformen und nicht zuletzt eine lebendige und vielfältiger werdende Podcast- und Actual-Play-Szene: Neuen Ideen und neuen Leuten Gehör zu verschaffen wird immer zugänglicher. Jetzt ist es an denen, die schon lange in der Szene sind, ihnen zuzuhören und Raum zu geben.
*Judith C. Vogt hat für die meisten deutschsprachigen und einige internationale Rollenspiele bereits den einen oder anderen Text geschrieben. Sie schreibt mit Christian Vogt zusammen Fantasy- und Science-Fiction-Romane und -Kurzgeschichten sowie monatliche Stories und Minispiele für den Patreon Vogt&Vriends. 2018 gründete sie mit Lena Richter den ersten deutschsprachigen Rollenspielpodcast von Frauen – den Genderswapped Podcast, in dem sie Rollenspiel aus feministischer Perspektive betrachten. 2019 erschien der Essayband „Roll Inclusive – Diversity und Repräsentation im Rollenspiel“, bei dem Judith Mit-Herausgeberin und Redakteurin war. Außerdem rantet und brandschatzt sie regelmäßig auf Twitter.
Auf Twitter: @judithcvogt
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[1] „Little Wars: a game for boys from twelve years of age to one hundred and fifty and for that more intelligent sort of girls who like boys‘ games and books“ (Wells, H.G., 1913)
[2] Zitiert und übersetzt von Lena Falkenhagen im Essay „Nur einen Würfelwurf voneinander entfernt“ in „Roll Inclusive – Diversity und Repräsentation im Rollenspiel“ (Doğan, Reiss, Vogt, 2019)
[3] Englischer Talk: „Queering Game Design“ http://vimeo.com/265203651, Übersetzung „Queeres Spieldesign“ von Lena Richter in „Roll Inclusive – Diversity und Repräsentation im Rollenspiel“ (Doğan, Reiss, Vogt, 2019)