Ein Gastbeitrag von Alexandra*
Ich bin Alexandra, 31 Jahre alt und habe Glasknochen. Ich bin ein offener Mensch, wenn man mich trifft könnte man mich nach meinen Hobbys fragen (lesen, fotografieren, bloggen und Katzen füttern), nach meinem Beruf oder meinen Träumen. Grundsätzlich habe ich auch keine Probleme mit Fragen zu meiner Behinderung. Aber immer wieder stellen mir fremde Menschen, wenn sie glauben, dass wir jetzt die Basis für vertrauliche Gespräche haben (also nach ungefähr 5 Minuten Smalltalk), eine irritierende Frage
„Kannst du Sex haben?”.
Irritierend ist diese Frage für mich aus zwei Gründen. Erstens ist sie übergriffig und in diesen Fällen meist sowohl in der Situation als auch im Hinblick auf die Beziehung zu meinem Gegenüber fehl am Platz.
Zweitens setzt sie die Überlegung voraus, dass ich als Frau mit einer körperlichen Behinderung aus irgendeinem Grund pauschal KEINEN Sex haben könnte. Und da wird es spannend.
Warum nehmen Menschen an, dass Menschen mit Behinderung keine Sexualität haben? Selbst mit starken körperlichen Einschränkungen gibt es in den allermeisten Fällen* doch den Wunsch und auch die Möglichkeit für eine (erfüllte) Sexualität.
Früher habe ich mich genötigt gefühlt, auf diese Fragen zu antworten. Ich hatte Angst, dass mein Gegenüber bei einer Verweigerung unwillkürlich annehmen würde, dass da etwas „nicht in Ordnung” bei mir sei. Mittlerweile werde ich das einerseits zum Glück nicht mehr so oft gefragt, bin aber andererseits auch selbstbewusst genug, mich nicht mehr zu einer Rechtfertigung gedrängt zu fühlen.
Zwar hat vorhandene oder nicht vorhandene Sexualität nichts mit „nicht in Ordnung sein“ zu tun, trotzdem versuche ich nachzuvollziehen, warum diese Frage immer wieder notwendig scheint.
In den Medien und auch im Alltag sind Menschen mit Behinderungen immer noch viel zu wenig sichtbar. Zwar versteckt sich kein Mensch mit Behinderung, den ich kenne, aktiv vor der Welt, aber die Teilhabe an sozialen Ereignissen wird mit einer Behinderung erschwert. Denn die Realität ist, dass viele Gebäude und Veranstaltungen einfach nicht barrierefrei zugänglich sind. So sind Menschen mit Behinderungen und ihre Partner:innen oft noch kein selbstverständliches Bild in Clubs, bei Konzerten etc.
Und natürlich gibt es in Serien, Bücher und Filmen in der Regel nicht den sexy Protagonisten mit einer Behinderung, wenn überhaupt sind „wir” tragische Figuren. Denn Charaktere, die als begehrenswert wahrgenommen werden sollen, entsprechen einem bestimmten Ideal und das ist mit dem “Makel” einer Behinderung offenbar nicht vereinbar. So gibt es auch viel zu wenige Influencer oder Modells mit einer Behinderung.
Nur mal zum Spaß: der Suchbegriff “Sex” bringt 4.890.000.000 Ergebnisse bei Google, sucht man nach “Sex + Behinderung” sind es noch genau 1.960.000 Ergebnisse. „Immerhin!“ würde ich sagen. Gibt es aber im ersten Fall eher Pornos, Tipps für besseren Sex, mehr Sex oder mehr besseren Sex, geht es jetzt viel sachlicher zu. Es geht um Sexualassistenz, “Wege wie man mit Behinderung zum Sex kommt” und das “Tabu” von Sex mit Menschen mit Behinderung. Puh.
Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen nicht wahrnimmt. Schon gar nicht als Menschen mit Beziehungen und (Gott bewahre!) Sex. Das ist etwas, was für die meisten Menschen weit außerhalb des Vorstellbaren liegt. So weit, dass selbst manche Personen, die beinahe täglich mit mir umgehen, glauben, dass sie mich bei diesen Gesprächen ausklammern müssen, damit ich nicht traurig werde (lol!). Das führt aber auch dazu, dass mein Mann bei vielen Veranstaltungen als mein Pfleger oder Bruder angesprochen wird. Es kann ja wirklich nicht sein, dass das mein Mann ist.
Das Problem der Entsexualisierung von Menschen mit Behinderung betrifft aber nicht nur Leute wie dich und mich, sondern auch Institutionen und Ärzt:innen.
Im letzten Dezember kippe ich vor Schmerzen plötzlich um. Ich habe von einem Moment auf den anderen so starke Schmerzen im Bauch, dass mir schwarz vor Augen wird und ich mich übergeben muss. Ich bin der „unklare Abdomen” und damit wohl ein Alptraum in der Notaufnahme. Ich könnte schließlich alles von Blähungen nach Tante Inges Kohlsuppe bis zur Nierenkolik haben. Probleme bei so ziemlich allen Organen müssen ausgeschlossen werden. Da ich auch eine Gebärmutter und Eierstöcke habe, lande ich also irgendwann nachts um 2 Uhr bei einer Gynäkologin. Sie begrüßt mich mit den Worten „Normalerweise behandle ich Frauen.” BÄM! Das sitzt. Obwohl ich müde, kaputt und bis zum Rand voll Schmerzmitteln bin, schaffe ich es zu erwidern „Ja, ich bin auch eine.” Worauf sie auf den Rollstuhl deutet und etwas darüber ergänzt, dass sie „sowas” noch nicht behandelt habe.
Die junge Ärztin erweist sich später als extrem engagiert sowie empathisch und hilft, obwohl ich nicht in ihr Sachgebiet gehöre, das Problem zu finden und zu behandeln. Was mich aber nachhaltig schockiert hat ist, dass selbst gut ausgebildete, freundliche, junge Ärzt:innen diese Behindertenfeindlichkeit so verinnerlicht haben.
Das geht so weit, dass Frauen mit Behinderungen oft entweder gar keine Verhütung angeboten wird (wir haben ja keinen Sex, höhö) oder auch in jungen Jahren eine Sterilisation problemlos durchgeführt wird (man stelle sich vor wir hätten Sex, was da passieren könnte).
Was hat meine Behinderung mit meinem Geschlecht oder meiner Sexualität denn überhaupt zu tun? Habe ich nicht gleichen Anspruch auf Aufklärung, Beratung und sexuelle Selbstverwirklichung wie jede:r andere? Ich bin nicht das freundliche Neutrum, dem du deine Beziehungssorgen und Bettgeschichten erzählen kannst. Ich hab’ selbst welche, danke.
Was ich mir wünsche
Viele Feminist:innen sprechen über Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung, dabei sollten wir auch Menschen mit Behinderungen mit einbeziehen. Das beginnt bei Kleinigkeiten. Wenn es um intersektionalen Feminismus geht, wird zum Beispiel in der Regel von BIPoC genau so gesprochen wie von trans, inter und nicht binären Menschen, Menschen mit Behinderungen fallen ganz oft hinten runter.
Bitte sagt nicht, dass das „nicht euer Thema” ist, die meisten Behinderungen werden im Laufe des Lebens erworben und Barrierefreiheit kommt uns allen zu Gute. Ich selbst kann mich auch nicht gegen Ableismus einsetzen und gleichzeitig Rassismus okay finden.
Achtet Menschen mit Behinderungen als gleichberechtigte Menschen, mögliche Partner:innen, echte Freund:innen und reale Persönlichkeiten. Ich kann natürlich nicht für alle sprechen, aber ich habe noch keinen Menschen mit Behinderung getroffen, der es toll fand, wenn man ihm bedauernd über den Kopf streichelt. Fragt bitte nicht “Kannst du Sex haben?”. Geht davon aus, dass es geht und es diejenigen, die es wissen müssen, auch erfahren werden.
Wenn ihr (beruflich) in irgendeinem Kontext mit Menschen zu tun habt, bei dem es auch um Geschlechtlichkeit geht (z.B. in der Arztpraxis, bei der Umkleide im Fitnessstudio oder vielleicht auch im Sexclub) behandelt Menschen mit Behinderung nicht, als gehören sie da nicht hin. Vielleicht ist Behinderung nicht sexy, aber ein Mensch mit Behinderung kann sexy as hell sein.
Disclaimer:
Explizit nicht thematisiert habe ich in diesem Text Menschen, deren Fetisch es ist Sex mit Menschen mit Behinderungen zu haben. Das ist noch mal eine ganz eigene Spielart, “hilft” Menschen mit Behinderungen aber auch nicht sondern fetischisiert sie und macht sie zum Objekt. Mit einer normalen erfüllten Sexualität hat das (in vielen Fällen) nicht viel zu tun, deswegen ist das für mich ein anderes Kapitel.
Sexualität und Behinderung hängen nicht zusammen, natürlich gibt es also auch asexuelle Menschen mit Behinderung, das ist völlig okay und Teil ihrer Persönlichkeit, aber eben nicht Merkmal ihrer Behinderung. Mein Text soll diese gängige Pauschalisierung kritisieren, nicht Menschen stigmatisieren, die keine Lust auf Sex haben.
Weitere, lesenswerte Artikel zum Thema Sexualität und Menschen mit Behinderung gibt es hier:
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*Alexandra arbeitet als IT-Projektleiterin in Frankfurt und schreibt seit 2011 den Blog Read Pack. Thematisch schreibt sie dort über Literatur und analysiert u.a. die Darstellungen von Menschen mit Behinderungen in Geschichten. Außerdem ist sie Teil des diesjährig gegründeten Literaturprojekts Sensitivity Reading und unterstützt damit Verlage und Autor:innen dabei Geschichten repräsentativ und nicht klischeehaft zu erzählen.
Ihr eigener Blog-Artikel „Ein ganzes halbes Klischee“ wurde zahlreich gelesen. Isabella Caldart interviewte sie daraufhin für einen Artikel, der bei Ze.tt erschienen ist: https://ze.tt/so-klischeehaft-werden-menschen-mit-behinderung-in-buechern-dargestellt/.
Isabella Caldart hat Alexandra ein weiteres Mal portraitiert. Der Artikel ist aktuell – gegen Bezahlung – im Zeit Magazin zu lesen: https://www.zeit.de/zeit-magazin/2019/49/alexandra-koch-rollstuhlfahrerin-traum