Die App TikTok hat ihre Moderator:innen angewiesen, Menschen mit Be_hinderungen auf einer Liste zu erfassen und ihre Reichweite zu deckeln. Auch dicke und queere Menschen landeten auf dieser besonderen Liste und wurden so gezielt unsichtbar gemacht.
Das geht aus direkten Berichten einer anonymen Quelle bei TikTok und internen Dokumenten hervor, die dem Recherchenetzwerk netzpolitik.org zugespielt wurden. Die Videos der intern markierten Benutzer:innen können nach der Markierung nur in deren Land gesehen werden. Doch damit nicht genug: Nach 6.000 bis 10.000 Ansichten werden sie mit einer automatischen Deckelung namens „Auto R“ versehen und landen in der Kategorie „not recommend“. Das bedeutet, sie werden auf der Startseite der App nicht mehr empfohlen.
Was ist TikTok überhaupt?
Bei TikTok geht es um kurze Videos, maximal 15 Sekunden lang. Ursprünglich war das ganze für LipSync bzw. Playback Videos gedacht. Nutzer:innen können Videos von sich aufnehmen, dann Musik darüberlegen und das ganze noch schneiden und bearbeiten.
Die App gibt es seit 2016, allerdings als chinesische Version „Douyin“, die auch bis heute nur für Nutzer:innen in China existiert. Im November 2017 übernahm der chinesische Mutterkonzern ByteDance den US-Konkurrenten „Musical.ly“, auf dem bereits Millionen von Nutzer:innen aktiv waren. ByteDance ist ein chinesisches Start-up, angeführt von Zhang Yimin, einem der reichsten Männer Chinas. 2018 fusionierten Musical.ly und Tiktok zu einer Plattform. Über eine Milliarde Mal wurde TikTok weltweit heruntergeladen, was häufiger ist als Instagram und Facebook, und war 2018 die am häufigsten heruntergeladene App in den USA im AppStore.
In Deutschland nutzen etwa 5,5 Millionen Menschen täglich TikTok. 60 Prozent der registrierten Menschen sind weiblich (oder geben an weiblich zu sein). Die Zielgruppe sind laut Angabe des Unternehmens 16- bis 25-Jährige. In der Realität sind die Nutzer:innen aber sehr viel jünger – etwa zwischen zwölf und 18 Jahren. Die beiden größten deutschen TikTok Stars Lisa und Lena hörten Anfang des Jahres auf, die App zu nutzen, auch wegen der Sicherheitsbedenken und mangelndem Datenschutz.
Was ist das Problem?
Unter dem Vorwand des Schutzes vor Mobbing haben Inhaltsmoderator:innen von ByteDance, dem Unternehmen hinter TikTok, allen Menschen auf dieser Liste den Status „Risk 4“ verpasst. Das bedeutet, dass ein Video nur in dem Land sichtbar ist, in dem es auch gepostet wurde. Das ist eine massive Einschränkung und hochgradig politisch brisant. Denn gerade von diskriminierten und unterdrückten Menschen und Marginalisierten wird TikTok mittlerweile vor allem für politische und informierende Zwecke genutzt. Missstände werden aufgezeigt, Leerstellen besetzt und aktuelle wie grundsätzliche Themen kommentiert. Ende Oktober gab es beispielsweise den Trend, dass Frauen zu den Voicemails ihrer aggressiven, abusiven Ex-Freunde tanzen. Es ist ein Akt der Befreiung und der gegenseitigen Unterstützung. Wenn diese und andere Videos das Herkunftsland nicht mehr verlassen, dringen Aufrufe zur Solidarität und Hilfe sowie notwendige alternative Perspektiven zur Nachrichtenlage nicht zur internationalen Online-Gemeinschaft durch.
Bei der Verwendung der App werden zahlreiche Nutzer:innendaten und Hintergrunddaten gesammelt sowie auch das Nutzer:innenverhalten ausgewertet. Das bedeutet im Klartext: IP-Adresse (ohne GPS-Daten), Geräteinformationen oder sonstige eindeutige Geräteidentifizierungsmerkmale, Cookies, der Browserverlauf, der Mobilfunkanbieter, die Zeitzonen- und lokalen Einstellungen, das Mobiltelefon- oder Gerätemodell, das Betriebssystem sowie Informationen zur Nutzung der App wie z. B. die Kommentare und Likes, die Nutzer:innen in der App hinterlassen, Profilansichten und selbst erstellte Inhalte. Auch Instagram bzw Facebook sammeln viele Daten, allerdings, sind diese zumindest deutlich transparenter erklärt.
ByteDance sitzt in der Volksrepublik China. Gerade dort unterliegen Medien absoluter staatlicher Kontrolle. Eine mögliche Folge wäre, dass man auf Basis der Nutzung von TikTok in das geplante soziale Wertungssystem, das Sozialkreditsystem, in China aufgenommen wird. So könnte man zum Beispiel die Einreise verweigert bekommen. Die aktuelle Neuigkeit ist auch nicht der erste Fall, bei dem TikTok negativ auffällt. Gerade bei politischen und queeren Inhalten griff die Moderation der Plattform in der Vergangenheit hart durch. Eine Teenagerin mit Millionen Follower:innen wurde ruckzuck gebannt, als sie ein China-kritisches Video postete. Im Februar musste das Unternehmen in den USA knapp 6 Millionen Dollar Strafe zahlen, weil es bewusst Inhalte von unter 13-Jährigen zugelassen hatte.
Schwierig ist auch, dass die öffentlich-rechtliche Sendungen wie die Tagesschau die Plattform nutzt. Allerdings führt das bisher nicht dazu, weniger China-kritische Inhalte auf dem Kanal zu veröffentlichen:
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Fadenscheinige Argumente für das Vorgehen
Dass sich die Vorgehensweise in erster Linie gegen be_hinderte Menschen richtet, ist ein harter Schlag gegen die crip Community. [Der Begriff „crip“ spiegelt die politische Rückeroberung des historisch abwertenden Begriffs „Krüppel“ wider, der eine Person nicht nur zu einem Bild der Hässlichkeit degradiert, sondern auch Menschen mit nicht-physischen Behinderungen von der Behindertengemeinschaft ausgeschlossen hat. ] Weltweit gibt es in Film, Funk und Fernsehen kaum Repräsentation, und falls doch, ist sie selten gut gemacht. Be_hinderten auf einer Plattform, die vor allem von jungen Menschen genutzt wird, auf diese Weise ihre Stimmen zu nehmen, erschwert den Kampf um mehr Gleichberechtigung in der Gesellschaft enorm. Auf der Liste stehen aber auch Nutzer:innen, die dick sind und damit selbstbewusst umgehen. Auch diese Menschen kämpfen gegen sozialen Stigmen. Auffallend viele zeigen übrigens eine Regenbogenflagge in ihrer Biografie oder verorten sich in ihren Texten und Videos als lesbisch, schwul und/oder nicht-binär.
Die Taktik von TikTok erinnert hier an viele Beispiele von scheinbar schützenden Gesetzen, Regelungen und Argumenten bei der Einschränkung und der Teilhabe von Frauen. Sei es das alleinige Reisen, die Freiheit der Jobwahl oder die Vorgabe von Kleidung – es ist (angeblich) alles nur zum Schutz gedacht. Was für ein Bullshit! Statt die potentiell gefährdeten Personen einzuschränken und auszuschließen, müssten viel eher die möglichen Täter:innen angegangen werden. Im aktuellen Fall muss sich die Moderation also gegen Mobber:innen richten. Darüber hinaus ist das Anfertigen von Listen bzw. das Markieren von marginalisierten Gruppen auch aus historischen Gründen immer höchst problematisch, speziell bei Be_hinderten.
Absurd, intransparent und widersprüchlich
TikTok versucht natürlich alles, um die schlechten Schlagzeilen zu relativieren und zu kontern, unter anderem mit hauseigenen Hashtag-Kampagnen zu Bodypositivity und offiziellen Statements gegen Mobbing und Hassrede. Allerdings wirkt das alles andere als glaubwürdig, wenn die Angestellten gleichzeitig die erwähnten Moderationsrichtlinien befolgen sollen. Konkret sollen die Moderator:innen innerhalb kürzester Zeit, etwa einer halben Minute pro Video/Nutzer:in, entscheiden, ob diese:r auf die Liste kommt oder nicht. Bei Videos, die im Schnitt 15 Sekunden dauern, eher schwierig. Also richtet man sich nach Äußerlichkeiten wie „entstelltes Gesicht“ oder eben Übergewicht. Wow. Und wie das bei Menschen mit Autismus oder Down-Syndrom funktionieren soll, ist noch absurder.
Die Kritik an TikTok wird auch dadurch untermauert, dass TikTok wesentlich intransparenter mit seinen Richtlinien umgeht als konkurrierende Social-/IT-Unternehmen aus dem Silicon Valley. Lange Zeit hat die Firma gar nichts darüber preisgegeben, auf welcher Basis Moderationsentscheidungen getroffen werden. Das Bekanntwerden dieser Richtlinien hat Kritiker:innen nun eher bestärkt als beschwichtigt.
Ich liebe TikTok, was soll ich jetzt machen?
Natürlich ist es schwer, eine App einfach aufzugeben, die so viel Spaß bringt. Außerdem ist es immer schwer, sich gegen den sozialen Druck der Freund:innen durchzusetzen, gerade für Jugendliche. Generell zeigt sich, dass Skandale und Missbrauch von Daten langfristig eher wenig Auswirkungen auf die Nutzer:innenzahlen haben. Facebook, WhatsApp und Instagram sind nach wie vor verbreitet und beliebt. Aber immerhin gibt es für diese Apps gute Alternativen, die auch immer mehr genutzt werden. Bei TikTok ist das schwieriger. Die ursprüngliche Kurzvideo-Plattform „Vine“ wurde 2017 eingestellt. Der offizielle Nachfolger „byte“ befindet sich noch in der geschlossenen beta Phase.
Wer also von TikTok nicht lassen kann, di:er kann zumindest bewusst Inhalte der diskriminierten Gruppen suchen und teilen. Außerdem kann man die bekannten Probleme weitererzählen. Vielleicht fällt dann irgendwann der gemeinsame Wechsel zu einer Alternative leichter. Andere, neue Plattformen sind etwa Houseparty oder Caffeine.