Heute feiert man in Europa die Befreiung Europas von den Nazis. Zu Recht, denn es ist ein Tag zum Feiern. Mich macht der Tag aber auch nachdenklich. Nicht nur, dass er in Deutschland kein gesetzlicher Feier- oder Gedenktag ist. Rechte und faschistische Netzwerke und Bewegungen sind so stark wie nie seit Ende des Dritten Reiches. Seit meiner Kindheit weiß ich, dass „das mit den Nazis“ nicht nochmal passieren darf. Seit meiner Teenagerzeit war ich auf unzähligen Veranstaltungen, um meinen Standpunkt zu vertreten. Und doch muss ich dieser Tage kapitulieren.
Ich wollte einen Twitchkanal starten. Über Politik reden. Über rechte Strukturen aufklären. Im Sommer die einzelnen Wahlprogramme analysieren und den Hintergrund der Kandidat*innen beleuchten.
Ich werde es nicht tun
Ich habe meiner Lebensgefährtin von der Idee erzählt. Sie war nicht begeistert. Nicht einmal ansatzweise. Nicht, weil sie mich nicht unterstützen will. Vielmehr hat sie Angst, dass ich und wir auf dem Radar der Rechten landen, dass wir trotz Impressumsservice gedoxxt (also die gebündelte Veröffentlichung unserer Adresse und anderen persönlichen Daten) werden und uns das Leben zur Hölle gemacht wird. Wir sind beide Feindbilder der Rechten. Das hat mir zu denken gegeben.
Paradigmenwechsel
Nun also kein Twitchkanal. Aus Angst vor den Rechten. Ich musste abwägen, was mir wichtiger ist: Zu tun, was ich für richtig halte, nämlich unter anderem über rechte Verstrickungen, die AfD und andere Dinge zu informieren, oder die Sicherheit meiner Lebensgefährtin, meiner Angehörigen und zuletzt auch von mir selbst. Würde ich das meinem Ich von vor 15 Jahre erzählen, ich würde mir nicht glauben.
Damals haben wir uns geschämt, dass die NPD die Fünf-Prozent-Hürde in drei Landtagen genommen hat. Heute freuen sich Nachrichtensprecher*innen, dass 75 % der Menschen in Sachsen die AfD nicht gewählt haben. Wann ist das bitte der Maßstab geworden? Menschen müssen inzwischen wirklich aufpassen, was sie sagen – nicht wegen der von rechten Meinungsmacher*innen herbeifabulierten Sprachpolizei, sondern wegen Abmahnungen und Anzeigen gut vernetzter und finanziell schlagkräftiger rechter Netzwerke und Parteien. Um es nochmal deutlich zu sagen: Rechte und rechtsoffene Menschen beklagen sich darüber, dass sie, wenn sie diskriminierende, Hass schürende, teilweise strafbare Inhalte von sich geben, dafür (zum Teil sehr scharf) kritisiert werden. Sie klagen dann, dass „man ja gar nichts mehr sagen“ dürfe, dass man in einer Diktatur lebe, am besten in einer linksgrün versifften Meinungsdiktatur. Was aber Menschen aus marginalisierten Gruppen geschieht, wenn sie ihre Meinung äußern: Trollattacken, Spamangriffe, die zur Sperrung des Social-Media-Profils führen, und vor allem Übergriffe im Offline-Leben: Drohungen, Stalking, Körperverletzung. Sie müssen tatsächlich um ihre Sicherheit bangen. Also haargenau das, was die Rechten ihren Gegner*innen mit dem Begriff „Meinungsdiktatur“ vorwerfen. Die Täter*innen-Opfer-Umkehr ist perfekt!
Alles Übertreibung?
Gleichzeitig bekomme ich zu hören, das mit den Rechten sei noch nicht so schlimm. Es ist so schlimm. Wer meint, ich würde übertreiben, kann diverse Aktivist*innen fragen, was sie von meiner „Übertreibung“ halten. Mehrere nicht selbst bestellte Lieferdienste, die jeden Abend vor der eigenen Haustür stehen, Mordankündigungen im Briefkasten, Drohungen, die dazu führen, dass Menschen von einem Tag auf den anderen umziehen müssen.
Das perfide ist: Parteien wie die AfD und die NPD können es sich finanziell leisten, einzelne Menschen mit Abmahnungen und Klagen zu überziehen. Warum? Weil sie vom Staat Gelder bekommen. Sie sind eingetragene Parteien, die zu Wahlen antreten, und haben somit ein Anrecht darauf. Nochmal ganz deutlich: Rechte Parteien bekommen aufgrund eines demokratisch verbrieften Rechts Gelder, mit denen sie antidemokratische Ideologien verbreiten können. Sie untergraben mit denselben demokratisch verbrieften Geldern demokratische Werte wie freie Meinungsäußerung, indem sie ihre Gegner*innen, die nicht über solche finanzielle Rückendeckung verfügen, mit Klagen und Abmahnungen beschäftigt halten bzw. so dafür sorgen, dass diese Gegner*innen mitsamt ihrer Kritik verschwinden. Das, oder es droht der finanzielle Ruin durch Prozess- und Anwaltskosten, Abmahngelder und Geldstrafen. Von den psychischen und physischen Attacken ganz zu schweigen.
Ich bin ehrlich erschüttert, dass ich die Konsequenz ziehen muss, keinen Twitch-Kanal zu eröffnen, zeigt es doch, dass die Rechten besser vernetzt sind, ihre potenziellen Opfer schlecht bis gar nicht geschützt werden und es ihnen, den Rechten, sogar von Gesetzesseite aus einfach gemacht wird (Stichwort: Impressumspflicht). Öffentlich gegen Nazis vorzugehen, scheint eine immer schlechtere Idee zu sein, wenn man nicht als Single alleine lebt. In dem Moment, in dem eine Person Lebensgefährt*innen, Kinder, Haustiere hat, ist sie angreifbarer, denn die Verantwortung für das eigene Handeln trägt sie dann nicht mehr allein.
Das Laute im Internet und das Silencing
Dass seit Jahren versucht wird, Frauen, queere Menschen, BIPoC und andere marginalisierte Menschen mundtot zu machen, ist keine bahnbrechende Neuigkeit. Rechte, vor allem rechte cis Männer, gehen gezielt gegen Marginalisierte vor, die sich öffentlich zu Diskriminierungen und Unterdrückung äußern die die AfD und rechte Netzwerke kritisieren sowie mittels Recherchen deren Machenschaften aufdecken – oder auch ganz einfach aus ihrem Leben und ihrem Alltag erzählen. All diese Menschen sollen nach Wunsch der Rechten aus der Öffentlichkeit verschwinden; manch ein AfD-Funktionär will sie auch komplett aus der Gesellschaft heraus drängen. Inzwischen haben Rechte nicht nur dahingehend Erfolg, dass tatsächlich Menschen ihre Online-Präsenz und -Öffentlichkeit einstellen: Ich bin garantiert nicht die Einzige, die sich Gedanken darüber macht, ob sie überhaupt in die Öffentlichkeit gehen soll. Noch bevor ich ein Projekt gestartet habe, wäge ich ab, ob die eventuellen Konsequenzen und das Bedrohungsszenario das wert wären. Und beschließe, das Projekt gar nicht erst zu starten.
Es verschwinden nicht nur marginalisierte Stimmen aus dem Netz, viele kommen dort gar nicht erst an. Aus Angst.
Das Silencing der Rechten wird erfolgreicher. Sie betreiben genau jene Cancel Culture, die sie anderen vorwerfen. Sie schaffen eine Atmosphäre der von ihnen vermeintlich so verpönten Meinungsdiktatur – mit Sanktionen, die sie ihren Gegner*innen vorwerfen, bei sich selbst aber definitiv nicht sehen. (Ernsthaft: Meinungsdiktatur mit Sanktionen bei Verstößen finden die meisten Rechten gar nicht so schlecht – nur dass es eben ihre Meinungsdiktatur sein soll, bitte schön.) Sie verbreiten eine Atmosphäre der Angst, die ich eigentlich nicht stumm und kommentarlos hinnehmen will.
Aber mich treibt ratlos und rastlos die Frage um: Was können wir tun? Was zum Henker können wir noch tun?