Ein Gastbeitrag von Elea Brandt.
Wikipedia – die Enzyklopädie des freien Wissens. In Informationsfülle und -qualität hat das Online-Nachschlagewerk selbst den traditionellen Brockhaus bereits abgelöst und gehört zu den zehn am häufigsten frequentierten Internetseiten der Welt.
Doch wie frei ist das Wissen in der Wikipedia wirklich? Die Diskussionen um die Löschung der deutschen Liste von Science-Fiction-Autorinnen (1), des Nornennetzes (2) oder der Seite von Wissenschaftlerin Katie Bouman (3) lassen vermuten, dass die enzyklopädische Neutralität der Wikipedia bisweilen nichts weiter ist als ein Mythos. Denn: Frauen und marginalisierte Gruppen werden in der „freien Enzyklopädie“ immer noch nicht ausreichend repräsentiert.
Wiki und die starken Männer
Wikipedia ist in erster Linie eine Männerdomäne. Eine offizielle Meta-Analyse anhand von Online-Umfragen ergab, dass nur etwa ein Viertel der Editor*innen in der US-amerikanischen Wikipedia Frauen sind. In Deutschland identifizierten sich in einer Studie sogar nur 10 % der Editor*innen als weiblich und 2 % als divers (4). Unter den Wiki-Leser*innen sind hingegen ein Drittel bis die Hälfte Frauen (5).
Unabhängig von der Art der Artikel sind Männer also überproportional häufig mit dem Schreiben und Redigieren von Einträgen befasst. Selbst bei Artikeln zu Menstruation sind in der englischen Wikipedia viermal so viele Männer beteiligt wie Frauen (6) – wobei hier trans und nicht-binäre Personen nicht miterfasst sind. Es lässt sich aber vermuten, dass menstruierende trans Männer und nicht binäre Personen den Bias nicht auszugleichen vermögen. Kurz gesagt: Männer geben in der Wikipedia den Ton an, selbst in den Bereichen, in denen Frauen oder nicht-binäre Personen in der Regel ebenso viel oder sogar mehr Expertise besitzen.
Sexismus und Queerfeindlichkeit als „Diskussionskultur“?
Wirft man einen Blick auf die Tipps für neue Editor*innen und in die Diskussionsspalten der Wikipedia, ist man wenig überrascht über die niedrige Frauenquote. Neuankömmlinge brauchen ein dickes Fell; sie sollen „tapfer“ sein, wenn sie kritisiert oder unfreundlich angegangen werden, und sich in Gleichmut üben (7). In keinem Wort werden dabei diejenigen gemaßregelt, die sich wie die Axt im Walde aufführen, denn: als langjährige Wikipedianer*innen wissen sie es ja vermutlich besser. Auf der zugehörigen Diskussionsseite formulierte es eine Editor*in sehr treffend: „Regelverletzungen und Unfreundlichkeit sind Bestandteil der Wikipedia-Kultur“ (8).
Besonders hart trifft es dabei Personen, die sich als Benutzerinnen angemeldet haben. Immer wieder berichten diese von sexistischen oder diskriminierenden Äußerungen bzw. Anfeindungen innerhalb der Wikipedia-Gemeinschaft (9). Viele Frauen geben ihr Geschlecht daher gar nicht mehr an und sind lieber als Benutzer unterwegs. Auch trans Menschen sind auf Wikipedia immer wieder Transfeindlichkeit ausgesetzt. So musste sich z. B. die Journalistin Ina Fried mehrfach gegen Wikipedianer*innen zur Wehr setzen, die ihr Geschlecht nicht anerkennen wollten (10). Auch hinsichtlich der Whistleblowerin Chelsea Manning wurden trans Aktivist*innen, die sich gegen die Nennung von Chelseas Deadname und gegen die Verwendung falscher Pronomen im Wikipedia-Beitrag aussprachen, angefeindet (11).
Pöbeln ohne Konsequenzen
Insgesamt mangelt es der Wikipedia an einem Korrektiv, das gegen übergriffige oder aggressive Editor*innen vorgeht. Verwarnungen oder Sperren, wie sie in anderen Online-Plattformen gängig sind, sind in der Wikipedia überwiegend nicht vorgesehen, zumindest dann nicht, wenn sich das Fehlverhalten nicht auf die Arbeit an der Wikipedia auswirkt, sondern andere Editor*innen zum Ziel hat. Wer also Falschmeldungen streut oder wahllos Artikel löscht, wird dafür gemaßregelt – wer Editorinnen beleidigt, nicht unbedingt.
Welchen enormen Rückhall Sperrungen langjähriger Nutzer*innen auslösen, illustriert ein Fall in den USA: Ein Editor wurde für ein Jahr gesperrt, nachdem er mehrfach andere Editor*innen beleidigt und belästigt hatte – und die Welle der Empörung war gigantisch. Sogar das Ende der Wikipedia wurde heraufbeschworen. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall, die Zahl der Editor*innen stieg sogar wieder (12).
Doch nicht nur die Angst vor Belästigung oder sexistischen Kommentaren treiben Frauen fort von der Wikipedia, auch der hohe bürokratische Aufwand macht es Neueinsteiger*innen schwer, sich der Community anzuschließen. Dies sieht auch John Lubbock, Communications Coordinator bei der Wikimedia UK (13). Seiner Einschätzung nach hat die Bürokratie der Wikipedia über die Jahre hinweg massiv zugenommen. Er vermutet, dass dies vor allem Frauen daran hindert, sich zu engagieren, da diese aufgrund häufiger Doppelbelastung durch Job und Care-Arbeit im Schnitt weniger Freizeit zur Verfügung haben, um sich freiwillig zu engagieren. Kommen dann noch unangemessene oder sogar sexistische Kommentare hinzu, liegt es nahe, das Engagement einfach aufzugeben.
Männlich? Relevant!
Der Gender-Bias zeigt sich aber nicht nur in Hinblick auf die Editor*innen, sondern auch in den Inhalten. Ob ein Artikel dauerhaft den Weg in die Enzyklopädie findet, entscheiden die Relevanzkriterien – und diese können (cis-)Männer insgesamt leichter erfüllen als Frauen, trans oder nicht-binäre Menschen.
Lebende Personen gelten zum Beispiel als „relevant“ im Sinne der Wikipedia, wenn sie ein herausragendes Werk geschaffen haben oder als weit bekannt gelten. Was nun konkret als herausragend oder weit bekannt zu bewerten ist, wird nicht spezifiziert. So verfügen zum Beispiel zahlreiche Big-Brother-Teilnehmer*innen oder Drittliga-Fußballvereine über einen Artikel in der Wikipedia, der Eintrag der Physikerin Donna Strickland hingegen wurde zunächst abgelehnt. „Die genannten Referenzen zeigen nicht, dass sie sich für einen Eintrag qualifiziert“ (14), lautete ein Kommentar auf der zugehörigen Diskussionsseite. Wenig später gewann Strickland den Nobelpreis für Physik – und bekam großzügigerweise doch einen Wikipedia-Eintrag (15).
Die Relevanz einer Person bemisst sich in der Regel an Kriterien wie der Zahl der Publikationen, der Zahl der Auszeichnungen oder dem Ausmaß der Medienberichterstattung. Und gerade in diesen Bereichen werden Frauen (und nicht-binäre Menschen) häufig übersehen. Der Computerwissenschaftler David Eppstein geht zum Beispiel davon aus, dass Akademikerinnen etwa doppelt so häufig für Löschungen vorgeschlagen werden als es bei Akademikern zu erwarten sei, insbesondere, weil die mediale Berichterstattung und die Gewährung von Preisen bei Frauen insgesamt geringer ausfiele (16).
Es ist naheliegend, dass auch in anderen Bereichen als der Wissenschaft Männer eher als relevant eingestuft werden als Frauen, z. B. im Kunst- und Literaturbereich. Frauen verdienen auch hier im Schnitt weniger als Männer, werden weniger rezipiert und erhalten seltener renommierte Preise, was die Chance auf mediale Aufmerksamkeit reduziert. Der Anteil nicht-binärer oder trans Menschen ist nahezu verschwindend gering (17).
Ladys, Mütter & Ehefrauen
Gelingt es einer weiblichen Person tatsächlich, für die Wikipedia als relevant erachtet zu werden, ergibt sich ein weiteres Problem: Auch inhaltlich bestehen Unterschiede zwischen Beiträgen über Männer und Frauen. Zu diesem Schluss kam eine Studie der Cornell University 2015 (18).
Den Wissenschaftler*innen zufolge sind Artikel über Frauen in der Wikipedia zwar weder unterrepräsentiert noch kürzer als die der Männer, doch sie sind schlechter mit anderen Inhalten verlinkt, d. h. weisen weniger Querverweise zu anderen Wikipedia-Seiten auf.
Inhaltlich betonten Beiträge über Frauen zudem wesentlich stärker das Geschlecht der dargestellten Person, zum Beispiel durch Wörter wie „woman“, „lady“ oder „female“. Umgekehrt enthielten Artikel über Männer kaum Worte wie „gentleman“, „masculine“ oder „male“. Dies ließe darauf schließen, so die Forscher*innen, dass „männlich“ als Standard-Geschlecht angenommen würde, welches nicht näher spezifiziert werden müsse, im Gegensatz zu weiblich.
Auch Aspekte von Beziehungsgestaltung und Familie werden bei Frauen signifikant häufiger erwähnt als bei Männern. Die Begriffe, die Artikel über Frauen am besten von Artikeln über Männer abgrenzten, waren„husband“, „female“ und „woman“. Die Forscher*innen gehen davon aus, dass zum einen die primär männlichen Editoren Grund dafür sein könnten, aber auch historische Ungleichheiten und kognitive Verzerrungen hinsichtlich Geschlechterrollen eine Rolle spielen dürften. Leider befasst sich die Studie nicht mit Beiträgen über nicht-binäre oder intersexuelle Menschen, es lässt sich aber vermuten, dass die Betonung des Geschlechts in diesen Fällen ebenfalls überproportional stark ausfällt.
Unsichtbar – und kein Ende in Sicht
Bisher lässt sich also schlussfolgern, dass Männer nicht nur eine höhere Chance haben, mit einem Artikel in der Wikipedia repräsentiert zu sein, sondern dass ihre Beiträge auch besser innerhalb der Enzyklopädie vernetzt sind und weniger auf Beziehungs- und Genderaspekte eingehen als Beiträge über Frauen und nicht-binäre Personen.
Darüber hinaus existiert noch ein weiterer Aspekt, der Frauen und nicht-binäre Menschen im Vergleich zu Männern verblassen lässt. Lemmata und Kategorien innerhalb der Wikipedia müssen dem generischen Maskulinum folgen; eine Ausnahme existiert hierbei nicht. Daraus ergeben sich teils regelrecht skurrile Kombinationen: Die Kategorie „Kameramann“ listet auch Frauen auf, die Kategorie „Hebamme“ auch Männer. Eine weibliche Person aus Deutschland, die Bücher schreibt, ist als „Frau“, „Schriftsteller“ und „Deutscher“ einsortiert. Und nach wie vor beinhaltet die „Liste deutscher Science-Fiction-Autoren“ sowohl Männer als auch Frauen. Wer also gezielt nach weiblichen oder nicht-binären Vertreter*innen sucht, tut sich damit nach wie vor schwer, insbesondere in männerdominierten Branchen.
Abgesehen davon, dass diese Personengruppen durch das generische Maskulinum systematisch unsichtbar gemacht werden, passt dessen Verwendung auch nicht richtig zur enzyklopädischen Exaktheit der Wikipedia und deren vermeintlicher Neutralität. Wäre eine Umbenennung in „Kameraleute“, „Geburtshelfer*innen“ oder „Liste deutscher Science-Fiction-Autorinnen und Science-Fiction-Autoren“ nicht wesentlich korrekter und zudem auch inklusiver? Verschiedene Studien kommen mittlerweile zu dem Schluss, dass die Verwendung gendergerechter Sprache Frauen besser anspricht als das generische Maskulinum und zu mehr Sichtbarkeit und zum Empowerment weiblicher Vertreterinnen beiträgt (19). Ferner ermöglichen es Konstrukte wie das Gendersternchen, auch nicht-binäre Personen einzuschließen (20).
Die Wikipedia sah das nicht so: Über 70 % der Abstimmungsberechtigten sprachen sich gegen die von Theresa Hannig angestoßene Petition für mehr Gendergerechtigkeit in der Wikipedia aus, z. B. durch Verwendung gendergerechter Sprache (21). Teils wurden technische Probleme oder der hohe Aufwand als Argument vorgebracht, teilweise aber auch schlicht persönliche Abneigungen und sexistische Polemik.
Für nicht-binäre Menschen ist die Situation tatsächlich noch prekärer als für Frauen: Die Wikipedia sieht bislang nicht einmal eine Möglichkeit vor, diese in Artikeln korrekt einzuordnen. Es existiert zwar die Unterkategorie „transgender“, nicht aber die Kategorie „nicht-binär“ oder „genderqueer“. Und auch als Editor*in kann man sich nur mit den Pronomen „er“ oder „sie“ ansprechen lassen. Eine neutrale Kategorie oder die Möglichkeit der Eingabe präferierter Pronomen existieren nicht.
Wikipedia aus der intersektionalen Perspektive
Ähnlich wie Frauen sind auch queere Menschen, People of Color (PoC) und andere marginalisierte Gruppen in der Wikipedia weniger repräsentiert als weiße cis-Männer. John Lubbock von Wikimedia UK fasst zusammen, dass die Wikipedia nicht nur mit einem Gender Bias zu kämpfen hat, sondern auch mit Ungleichheit in Bezug auf ethnische und geographische Gegebenheiten.
In den USA wurde zudem bereits mehrfach auf einen „Racial Bias“ hingewiesen: PoC sind unter den Benutzer*innen der Wikipedia stark unterrepräsentiert und auch Artikel über Persönlichkeiten of color weisen häufig Ungenauigkeiten oder Fehler auf – sofern die Beiträge überhaupt existieren (22).
Auch in der deutschen Wikipedia ist die Problematik präsent: Beispielsweise ist der Beitrag über die indigenen Völker Nordamerikas nach wie vor mit dem kolonialistischen Begriff „Indianer“ überschrieben, während andere Sprachversionen, wie die englische oder italienische, bereits die wissenschaftlich neutralere und korrektere Bezeichnung „indigene Völker“ nutzen. In einer Wikipedia-Diskussion wurde die Verwendung des Begriffs „Indianer“ auch im Deutschen in Frage gestellt und als kolonialistisch und verniedlichend kritisiert. Trotzdem behielt man sie bei, unter anderem wegen der vermeintlich besseren Verständlichkeit (23). Diese Entscheidung lässt sich also mitnichten als „neutral“ verstehen, sondern folgt klar einer eurozentrierten Denkweise. Im Jahr 2016 wurde zudem bekannt, dass ein Mitglied der AfD für die oberste Entscheidungsinstanz der deutschen Wikipedia, dem Schiedsgericht, kandidierte. Unter anderem profilierte sich der Nutzer „Magister” als Experte für den Deutschen Orden und Panzermodelle der Wehrmacht (24). Es darf also bezweifelt werden, dass hier von einem neutralen Standpunkt aus argumentiert wird. Dies zeigt sich unter anderem in einer Bearbeitung des Beitrags von AfD-Vize Alice Weidel: In einer unveröffentlichten Version des Artikels beschreibt Magister sie als „eloquente Verfechterin der Positionen der AfD in medialen Formaten” und als „prominentes Gegenbeispiel zur allgemein als homophob beschriebenen Darstellung der AfD” (25). Auch wenn diese Formulierungen nie den Weg in den offiziellen Artikel fanden, zeigen sie doch eindrucksvoll, dass hier keinesfalls von „politischer Neutralität” gesprochen werden kann, sondern von einer klaren parteipolitischen Färbung. Gerade für Marginalisierte ein Schlag ins Gesicht.
Es manifestieren sich in der Wikipedia also nicht nur unbewusste Vorurteile, sondern auch bewusster Aktivismus rechter Gruppierungen. , Die vorherrschenden Denkweisen sind in hohem Maße nicht-intersektional und kumulieren sich daher bei Personen, die verschiedenen marginalisierten Gruppen angehören.
Die Mär von der Neutralität
Obwohl die Wikipedia also den Anspruch enzyklopädischer Neutralität erhebt, wird sie diesem in vielerlei Hinsicht nicht gerecht. Die Realitäten marginalisierter Gruppen (z. B. Frauen, trans, queer, PoC, Bl_PoC) haben weniger Chance, in der Wikipedia repräsentiert zu sein, als die der Mehrheit (cis, weiß, hetero). Das ist insofern problematisch als dass die Leser*innen der Wikipedia gelernt haben, diesen Bias häufig gar nicht zu hinterfragen: Was nicht in der Wikipedia steht, existiert nicht – oder ist zumindest nicht ausreichend wichtig. Damit werden Marginalisierte noch stärker aus dem globalen Bewusstsein verbannt als das ohnehin bereits der Fall ist.
Zudem zeigt sich: Jenen Editor*innen, die sich für eine angemessene Repräsentation von Marginalisierten innerhalb der Wikipedia einsetzen, wird allzu oft politischer Aktivismus vorgeworfen, der reale Gegebenheiten zugunsten einer Agenda verzerre. Dabei ist häufig das Gegenteil der Fall, denn die Bewahrung des Status Quo und der Ausschluss von Minderheiten ist für sich bereits inhärent politisch. Die Berufung auf „politische Neutralität“ ist also irreführend.
Wiki vs. politische Agenda
Bereits 2012 fand auf Wikipedia eine ausführliche Diskussion statt, die zeigt, mit welchen Problemen motivierte Neulinge auf Wikipedia konfrontiert werden können, wenn sie sich für die Repräsentation von Minderheiten einsetzen.
Eine Editorin hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Phrase „an den Rollstuhl gefesselt“ in die weniger diskriminierende Formulierung „einen Rollstuhl nutzen“ oder „im Rollstuhl sitzen“ umzuformulieren. Daraufhin wurde sie von alteingesessenen Editor*innen persönlich angegangen und für ihre „politische Mission“ abgestraft, sogar beleidigt (26). Und das, obwohl die Editorin weder Engagement anderer gefordert noch die Neutralität der Wikipedia verletzt hat – im Gegenteil: Sie setzte sich sogar für mehr Neutralität ein. Der massive Gegenwind von Seiten einzelner Editor*innen brachte die Betroffene schließlich dazu, sich zurückzuziehen: „Ja, ich war neu hier, war, da ich mich wohl morgen wieder abmelden werde. Ich hatte zwar auch Lust, eigene Beiträge zu verfassen, oder ein paar Wissensbausteine einzufügen (und dachte ich starte ersteinmal [sic] mit etwas kleinem). Aber die ist mir nun vergangen.“ (27)
Eine ähnliche Erfahrung machte auch die Schriftstellerin Theresa Hannig. Für ihren Einsatz für die Liste deutscher Science-Fiction-Autorinnen schlug ihr sehr viel Häme, Hass und Abneigung entgegen, insbesondere, da sie sich als „Außenstehende“ erdreistete, sich an Diskussionen über die Form von Listen auf Wikipedia und schließlich auch für mehr Gendergerechtigkeit einzusetzen. Sachliche Argumente und Fakten wurden dabei häufig ignoriert; stattdessen wurde Theresas Engagement als ideologisch verblendet oder politische Mission abgekanzelt, die nicht zur vermeintlichen „Neutralität der Wikipedia“ passe (28).
Dabei muss man schlussendlich feststellen: Die Wikipedia agiert nicht „neutral“, sondern schließt systematisch bestimmte Personengruppen aus. Dies geschieht nicht unbedingt intentional, sondern resultiert aus der mangelnden Sensibilität für diese Themen und aus dem Gedanken heraus, die Sicht und Realität der Mehrheit sei automatisch neutral.
Viel ist bekannt, wenig bewegt sich
Die hier aufgeführten Probleme sind der Wikipedia schon länger bekannt, sind aber gerade im deutschen Raum bisher nicht ausreichend in den Fokus gerückt. Dennoch kann man nicht behaupten, dass in den letzten Jahren keine Bemühungen angestrebt worden wären, den „Gender Bias“ und den „Racial Bias“ in der Wikipedia zu reduzieren.
So gab es bereits 2011 innerhalb des deutschen Wikis Diskussionen darum, warum sich so wenige Frauen aktiv beteiligen – und auch das generische Maskulinum, auf dem die Lemmatisierung und Kategorisierung innerhalb der Wikipedia aufbaut, wurde bereits damals kritisiert (von Editorinnen, wohlgemerkt, nicht von „Außenstehenden“) (29).
Sowohl in der deutschen als auch der englischen Wikipedia existieren darüber hinaus spezielle Portale und Bündnisse für Frauen, trans oder nicht-binäre Menschen, die deren Engagement in der Wikipedia fördern und die Repräsentation verbessern sollen (30). Diese Portale bieten nicht nur spezielle Mentoringprogramme, sondern organisieren auch gezielt Aktionen, zum Beispiel das Projekt „Women in Red“, das darauf abzielt, rote Wikipedialinks weiblicher Persönlichkeiten durch blaue zu ersetzen, in dem neue Beiträge ergänzt werden.
Ferner versuchen sogenannte „Edit-a-thons“ wie zum Black History Month, Editor*innen zu motivieren, Artikel über marginalisierte Gruppen (hier: Bl_PoC) zu korrigieren, zu ergänzen oder neue Beiträge zu erstellen.
Viele Probleme scheinen der Wikipedia also durchaus bekannt zu sein; bislang hängt das Engagement aber oft an wenigen und – vor allem – an den Marginalisierten selbst.
Was kann ich tun?
Eine entscheidende Frage bleibt also offen: Was kann jede*r Einzelne tun, um dem Problem zu begegnen?
Boykott
In den sozialen Medien äußerten viele Personen ihren Unmut über die rigiden Strukturen innerhalb der deutschen Wikipedia und gaben an, fortan nicht mehr spenden und nur noch die englischsprachige Version nutzen zu wollen. Sie erhoffen sich, somit den nötigen Druck aufzubauen, um Veränderungen herbeizuführen. Leider hat sich bislang gezeigt, dass sich die eingeschworene Gemeinschaft innerhalb der Wikipedia nicht übermäßig von äußeren Einflüssen bewegen lässt. Ob ein Einstellen von Zahlungen also wirksam ist, um Veränderungen anzustoßen, muss leider bezweifelt werden. Druck auf die Verantwortlichen ist aber dennoch ein wichtiges Instrumentarium, über das es weiter nachzudenken gilt.
Thematisieren und Kritisieren
In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass Aktivismus „von außen“ bei den alteingesessenen Wikipedianer*innen überwiegend auf Frust und Ablehnung stößt. Auch persönliche Fehden sind daraus bereits entstanden (Theresa Hannig kann ein Lied davon singen) (31). Dennoch sollte uns das nicht davon abhalten, Probleme anzusprechen und zu thematisieren.
Wikipedia versteht sich als freie und gemeinnützige Enzyklopädie und muss daher auch Kritik von denen annehmen können, die sie als Informationsmedium verwenden. Ansonsten dürften wir auch Politiker*innen nicht mehr kritisieren, ohne selbst in der Politik zu sein, wir dürften die schlampige Arbeit von Handwerker*innen nicht anmahnen, solange wir nicht selbst in einem Handwerksbetrieb arbeiten, und wir dürften keine schlechten Rezensionen über Bücher oder Filme schreiben, solange wir nicht selbst Autor*innen oder Filmemacher*innen sind. Wikipedia bietet einen Dienst für Nutzer*innen an, deren Kritik muss also auch Gewicht bekommen.
Sich engagieren
Jede*r kann Wikipedia mitgestalten, neue Beiträge erstellen, Beiträge editieren, sich in Diskussionen einbringen und aktiv mitarbeiten. Der Einstieg ist zwar holprig, aber keine Hexerei. Portale wie „Wiki Frauen“ oder „Transgender, Transsexualität und Geschlechtervielfalt“ sind hilfreiche Anlaufstellen, um sich einzubringen und Gleichgesinnte zu finden. Sexismus, Queerfeindlickeit oder allgemeine Übergriffigkeit von Seiten anderer Editor*innen sollten dabei nicht einfach hingenommen, sondern offen angesprochen und thematisiert werden.
Ein tolles Beispiel für positiven Aktivismus bietet die Physikerin Jess Wade: Sie nahm sich Anfang 2018 vor, jeden Tag einen Eintrag für eine Wissenschaftlerin oder über einen Wissenschaftler, der einer unterrepräsentierten Minderheit angehört, anzulegen. Mittlerweile hat sie über 600 neue Wikipedia-Seiten geschaffen, nur 6 wurden wegen mangelnder Relevanz gelöscht (32).
Wichtig ist dabei auch, dass sich nicht nur Frauen und Marginalisierte einbringen, sondern dass Nicht-Marginalisierte ihre Stimme und ihre Reichweite nutzen, um auf bestehende Missstände aufmerksam zu machen und Marginalisierten in Diskussionen den Rücken zu stärken. Denn nur so kann die Wikipedia ihrem Anspruch als freie Enzyklopädie wieder gerecht werden.
Quellennachweise
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- Fuchs, J. G. (2019. Wikipedia löscht wieder Frauen: Die schwierige Kultur einer Enzyklopädie. T3N, abgerufen unter: https://t3n.de/news/wikipedia-loescht-frauen-kultur-1181737/ , Stand: 30.07.2019
- Heyer, L. (2019). Sexismus: Die junge Frau, die das schwarze Loch fotografierte, wird im Netz angefeindet. Stern Online, Abgerufen unter: https://www.stern.de/neon/wilde-welt/gesellschaft/sexismus-im-netz–warum-die-junge-wissenschaftlerin-katie-bouman-attackiert-wird-8670870.html, Stand 30.07.2019
- Schughart, A. (2017). Frauenanteil bei Wikipedia. Schreiben statt schweigen. Spiegel Online. abgerufen unter: https://www.spiegel.de/netzwelt/web/frauen-in-der-wikipedia-schreiben-statt-schweigen-a-1158671.html, Stand: 02.08.2019
- Hill, B. M., Shaw, A., Sánchez, A. (2013). „The Wikipedia Gender Gap Revisited: Characterizing Survey Response Bias with Propensity Score Estimation“. PLoS ONE. 8(6), e65782. Abgerufen unter: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0065782, Stand 28.07.2019
- Domscheit-Berg, A. & Domscheit-Berg, D. (2018). Frauen in die Wikipedia! FR7 Magazin, 18, S.2. Abgerufen unter: https://mdb.anke.domscheit-berg.de/wp-content/uploads/2018/07/FR7_Netzteil20.pdf, Stand 28.07.2019
- Wikipedia, Projektseite „Sei tapfer“, abgerufen unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Sei_tapfer, Stand: 28.07.2019
- Diskussionsseite zu „Sei tapfer“ (Kommentar vom 4. August 2014), abgerufen unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia_Diskussion:Sei_tapfer , Stand 28.07.2019
- Schwarz, C. (2018). It’s a man’s world: Wie weibliche Editorinnen von der Wikipedia verdrängt werden. Netzpolitik, abgerufen unter https://netzpolitik.org/2018/its-a-mans-world-wie-weibliche-editorinnen-von-der-wikipedia-verdraengt-werden/, Stand 28.07.2019
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- Siehe hierzu auch den Beitrag von Lara (2019) auf diesem Blog: Wie wir über geschlechtergerechte Sprache schreiben, abgerufen unter: https://feminismus-oder-schlaegerei.de/2019/01/28/re-wie-wir-ueber-geschlechtergerechte-sprache-schreiben/, Stand 02.08.2019
- Meinungsbild Gendergerechte Sprache, Mai 2019, https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Meinungsbilder/Geschlechtergerechte_Sprache, Stand 28.07.2019
- Smith, J. (2015). Howard University Fills in Wikipedia’s Gaps in Black History. NY Times, Abgerufen unter: https://www.nytimes.com/2015/02/20/us/at-howard-a-historically-black-university-filling-in-wikipedias-gaps-in-color.html, Stand 28.07.2019
- Wikipedia: „Meinungsbild zur Bezeichnung der Indianer“, abgerufen unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Indianer/Archiv/1#Besonderer_Teil:_Meinungsbild_zur_Bezeichnung_der_Indianer, Stan: 31.07.2019
- Diesing, R. (2016). Der AfD-Mann, der die deutsche Wikipedia spaltet. VICE, abgerufen unter:https://www.vice.com/de/article/53dnnd/der-afd-mann-der-die-deutsche-wikipedia-lahm-legt, Stand: 02.08.2019
- Wikipedia, unveröffentlichter Entwurf zur Seite von Alice Weidel, abgerufen unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:MAGISTER/Alice_Weidel, Sand: 02.08.2019
- Wikipedia Diskussion: Formulierung Rollstuhl, März 2012, abgerufen unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Dritte_Meinung/Formulierung_Rollstuhl, Stand 28.07.2019
- Wikipedia: Diskussionsseite des Nutzers Laibwächter, https://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer_Diskussion:Laibw%C3%A4chter#an_den_Rollstuhl_gefesselt
- Hannig, T. (2019). Das erste #wikifueralle Meinungsbild scheitert, abgerufen unter: https://theresahannig.de/2019/05/27/das-erste-wikifueralle-meinungsbild-scheitert/, Stand: 28.08.2019
- Wikipedia-Diskussion: Warum so wenige Frauen mitmachen (2011). Abgerufen unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia_Diskussion:Kurier/Archiv/2011/03#Warum_so_wenige_Frauen_mitmachen, Stand: 28.07.2019
- Englisches Portal WikiProject Women: https://en.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:WikiProject_Women; Deutsches Portal WikiProjekt Frauen: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:WikiProjekt_Frauen, deutsches Projekt für Transgender und Geschlechtervielfalt: https://de.wikipedia.org/wiki/Portal:Transgender,_Transsexualit%C3%A4t_und_Geschlechtervielfalt ; Stand 31.07.2019
- Fuchs, J. G. (2019) Hat Wikipedia ein Problem mit Frauenfeindlichkeit? DIE WELT, abgerufen unter: .https://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article197774499/Wikipedia-loescht-Frauen-Die-schwierige-Kultur-einer-Enzyklopaedie.html, Stand 02.08.2019
- Krämer, Katrina (3 July 2019). „Female scientists‘ pages keep disappearing from Wikipedia – what’s going on?“. Chemistry World. Royal Society of Chemistry. Retrieved 3 July 2019