Natürlichkeit ist ein beliebtes Argument, sobald es um Geschlechterstereotype und ihre Verteidigung geht. Angeblich hat die Biologie vorgesehen, dass cis Frauen sich rund um die Uhr liebevoll und geduldig um den Nachwuchs kümmern. Angeblich sind cis Männer qua ihrer Biologie echte Schlägertypen, die Mammuts besiegen können und auf die gesammelten Früchte nur zu gerne verzichten. „Die Frau ist durch die Natur ihres Wesens zu keiner Kultur fähig“, erklärten um 1700 die Aufklärer. Zweihundert Jahre danach vertrat auch Sigmund Freud diese These. „Jungen müssen sich eben prügeln und Mädchen tragen am liebsten rosa Kleidchen“, wird auch heute noch vielen Eltern „natürlich“ entgegengebracht. Biologismen nennen wird diese Argumente, die sich wissenschaftlich glauben. Tatsächlich hat Biologie mit all diesen Dingen herzlich wenig zu tun.
Von wegen zwei Geschlechter
Fangen wir mit dem Totschlagargument der Biologismen schlechthin an, die Natur hätte nur zwei Geschlechter vorgesehen und alles andere als die binären Vorstellungen unserer Gesellschaft seien deswegen Hirngespinste. Tatsächlich kennt die Biologie nicht nur ausschließlich Lebewesen, die ihr Leben lang sowohl männliche als auch weibliche Keimzellen produzieren, sondern auch solche, die sich nicht durch Geschlechtsverkehr vermehren. Das gilt nicht nur für Mikroorganismen. Haiweibchen beispielsweise können auch ganz ohne zweites Exemplar ihrer Gattung schwanger werden. Andere Fischarten wie beispielsweise der Clownfisch halten es mit der Geschlechtszugehörigkeit eher fließend. Auch Homosexualität und Bisexualität sind im Tierreich keine Seltenheit. Genauso liegt man mit der Behauptung, dort würden eingeschlechtliche Partnerschaften immerhin keine Nachkommen großziehen, schlicht falsch, wie das Beispiel zweier Pinguinmännchen aus dem Berliner Zoo zeigt. Ähnliches wurde auch in der sogenannten freien Wildbahn schon beobachtet.
bunte Genetik
Wenn Menschen merken, dass sie mit dem binären Geschlechtssystem in der weiten Welt der Fauna nicht landen können, versuchen sie gerne, es auf ihre Gattung zu begrenzen und kommen mit Genetik an. XY und XX, ihr wisst schon. Biologisme at their best. Alle, die glauben, dass es das schon gewesen sei, müssen jetzt ganz stark sein, denn der Mensch kennt weit mehr als das. Auch der wissenschaftliche Blick geht längst dahin, mehr Chromosomenentwürfe in den sogenannten Normbereich aufzunehmen, also in den Bereich, in den die Mehrheit der menschlichen Population einordenbar ist. Gleichzeitig ist es längst bekannt, dass es auch Menschen gibt, die als cis Mann erscheinen und dabei einen XX-Chromosomensatz haben oder anders herum. Werft also den Glauben an die chromosomale Eindeutigkeit von Geschlechtern über Bord. Die gibt es de facto nicht.
fortschrittliche Vorfahr:innen
Wenn die Natur also erwiesenermaßen weder ein binäres Geschlechtersystem noch die Eindeutigkeit der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht durch einzelne Marker wie Chromosomen verzeichnen lässt, steht die Frage im Raum, warum sich Biologismen so hartnäckig halten, Menschen grundlos ausgrenzen und dadurch psychische wie psychosomatische Erkrankungen begünstigen. Liegt vielleicht zumindest in der Definition der Frau als Mutter und der Erklärung des Mannes als ihrem Beschützer ein Funken Wahrheit? Hold my Eierstock … nein. Von der Ideologie der Jäger und Sammlerinnen ist längst nichts mehr übrig. Alle Aufgaben fielen, da ist man sich heute sicher, an alle Geschlechter. Kinderbetreuung wurde genauso aufgeteilt wie die Jagd und das Sammeln anderer Nahrungsmittel. Anders gesagt, unsere prähistorischen Vorfahr:innen waren, was Gleichheit der Geschlechter angeht, wahrscheinlich wesentlich ausgeglichener, als wir es heute sind. Wer also heute sagt: „Das ist schon immer so“, meint eigentlich: “Ich will nicht, dass es anders ist.“ Denn dass es anders sein kann, haben Höhlenmenschen bereits vorgelebt.
Gewohnheit zur Biologie erklären nervt
Biologische Argumente zum Zweck, Geschlechterstereotype zu untermauern, sind in erster Linie vor allem eines: gequirlte Scheiße. Sie beruhen vielmehr auf Gewohnheiten und internalisierten Zuschreibungen. Biologismen haben mit Biologie oft herzlich wenig zu tun. Ein leichtes Beispiel ist das Konzept des sogenannten „maternal gatekeeping“, das behauptet, die Mutter wüsste, was das Beste für ihr Baby ist, und würde deswegen alle anderen, auch männliche Elternteile, vom Kind fernhalten. Dieser Gedanke berücksichtigt nicht, dass die Mutter im überwiegenden Teil der Fälle im Vergleich die meiste Zeit mit dem Säugling verbringt und deswegen seine nonverbalen Signale schneller deuten kann. Das funktioniert auch dann noch, wenn die Kinder bereits Sprechen lernen und nur die Mutter sie versteht. Kunststück, sie muss das Gebrabbel ja auch 24 Stunden am Tag entschlüsseln. Gleichzeitig lässt sich die gleiche Schutzhaltung dem Kind gegenüber auch beobachten, wenn andere maßgeblich Zeit mit ihm verbringen, sei es nun ein Vater oder eine andere Bezugsperson. Maternal Gatekeeping – und damit auch die große Behauptung, Frauen wüssten eben besser mit Kindern umzugehen – hat weder etwas mit einem Uterus oder einem Verwandtschaftsgrad zu tun, sondern einfach nur damit, wie viel Zeit und Interaktion eine Person mit einem Baby oder Kleinkind verbringt. Tja, wieder nichts mit Biologie.
Vorsicht vor der verdrehten Kausalkette
Die große Gefahr an den Biologismen ist, dass wir schnell bereit sind, sie zu glauben, weil sie in unser von internalisiertem Sexismus durchzogenes Weltbild passen. Die Kausalkette ist verdreht, aber wir stecken zu tief drin, um das zu merken. Dass die so oft zitierte Natur absolut nichts mit unserem Geschlechterverständnis zu tun hat, ist für viele schlicht unvorstellbar. Dadurch ergeben sich nicht nur fehlerhafte Parameter und falsche Grenzen, sondern auch Diskriminierungen und Zuschreibungen, die Druck aufbauen und eines auf jeden Fall unmöglich machen: ein natürliches Verhältnis zu Geschlechtern und unserer eigenen Identität. Wenn ihr also das nächste Mal einem Argument für Geschlechterstereotypen begegnet, das mit Natur oder Biologie daherkommt, denkt daran: Die Biologie würde dem maximal ein genervtes „Fuck off“ entgegnen.