(CN: Erwähnung von Trauma, abusiven Beziehungen, Genderklischees)
(SPOILER: Der Artikel enthält geringe Spoiler für die Serie „Steven Universe“ und den Film „Steven Universe: The Movie“, allerdings hoffentlich keine storyrelevanten Spoiler, die den Genuss der Serie schmälern würden.)
Seit ich denken kann, schaue ich (animierte) Kinderserien. Ich habe auch als Erwachsene nie damit aufgehört. Denn in vielen Punkten, die ich gerade aus feministischer, intersektionaler Perspektive an den großen „Erwachsenen-Produktionen“ der Studios kritisieren muss, sind es heutzutage viele Kinderserien, die eine Vorbildfunktion einnehmen. Sie schaffen, was sich die Erwachsenen-Serien aus Marketinggründen gerne auf die Fahne schreiben würden, aber nur selten tatsächlich durchziehen: Sie erzählen echte emanzipatorische Geschichten, und das auf eine sehr kindgerechte Art. Dabei darf kindgerecht nicht mit kindisch oder kindlich verwechselt werden. Während „erwachsene“ Serien oft daran scheitern, emotionale Tiefe aufzubauen, und diese Unzulänglichkeit lieber mit Gewalt und Erotik übertünchen, verpacken diese Serien schwierige Themen in eine kindgerechte, aber dennoch nicht weniger komplexe Geschichte. Eine, die das in Perfektion tut, und die ich deshalb genauer vorstellen will, ist Steven Universe.
Steven Universe – made by Rebecca Sugar
Seit ihrem Debüt 2013 begleitet die Animationsserie Steven Universe von Cartoon Network den titelgebenden Teenager auf seinen Abenteuern mit den Crystal Gems – einer wachsenden Gruppe von Außerirdischen, die die Erde verteidigen. Gemeinsam kämpfen sie in kosmischen Konflikten, während sie versuchen, sich in ihre menschliche Nachbarschaft in der schrulligen Stadt Beach City einzufügen. Dabei lernen wir über mittlerweile fünf Staffeln und einen im Sommer 2019 erschienenen Fernsehfilm sehr viele liebevoll gezeichnete, individuelle Figuren kennen, die die Welt von Steven Universe zu einer besseren Welt machen – und damit meine ich ausdrücklich auch die Gegner*innen. Sie sind nie eindimensional „böse“; manchmal versteht man ihr Verhalten und ihre Art, auf die Welt zu blicken, aus ihrer Geschichte heraus sogar besser als Stevens unbeugsamen Optimismus. Ein Sieg des Guten am Ende bedeutet in Steven Universe nie, die Gegner*innen tatsächlich zu besiegen – der ultimative Sieg besteht darin, sie zu Freund*innen zu machen.
Rebecca Sugar, Schöpfer*in und Herz hinter Steven Universe, könnte vielleicht schon durch ihre Arbeit als Storyboard-Artist für Adventure Time ein Begriff sein. Mit Steven Universe hat sie (Rebecca Sugar ist nicht-binär, verwendet aber u. a. das Pronomen sie) sich auch deshalb ein Denkmal geschaffen, weil es ein Gesamtkunstwerk ist: Alle Rädchen der Story greifen zu jedem Punkt ineinander; jede noch so abseitig wirkende Füller-Episode hat am Ende ihre Bedeutung für die Charakterentwicklungen, die die Geschichte vorantreiben. Man merkt deutlich, dass Rebecca zusammen mit ihren Co-Writer*innen schon bei der ersten Folge die Haupthandlung der fünf Staffeln vorausgeplant und mitgedacht hat.
„Strong in the real way“: Was ist das Gegenteil von toxischer Männlichkeit?
Steven, der Protagonist der Serie, ist ein Junge. Eigentlich erfüllt er viele Eigenschaften der klassischen „Magical Girl“-Trope à la Sailor Moon, wie sie in Animationsserien fast ein eigenes Genre bildet. Denn Steven wird alles andere als traditionell männlich dargestellt. Er mag es genauso gern, mit Frauen wie seiner besten Freundin Connie oder den Crystal Gems selbst Zeit zu verbringen wie mit anderen Jungen seines Alters oder mit seinem Vater Greg. Er hat keine Angst davor, Gefühle für seine Freund*innen und seine Familie zu zeigen. Und sein gutes Herz und sein Gespür für andere Personen oder Kreaturen und deren Bedürfnisse und Wünsche, ist – neben allen magischen Kräften, die er hat – Stevens größte Fähigkeit. Mit ihr schafft er es, die kleinen und großen Probleme seiner Welt zu lösen.
Steven verkörpert damit viele traditionell weiblich konnotierte Eigenschaften und Charakterzüge. Doch es ist nicht nur eine einfache Umkehr eines Klischees, sondern viel mehr als das: Steven findet es niemals unangenehm, diese Seite von sich zu zeigen; er sieht keinen Grund, daran zu zweifeln, dass er genau so richtig ist. Noch dazu wird er von keiner anderen Figur in der Serie dafür schief angeguckt oder kritisiert; vielmehr lernen andere an seinem Vorbild, sich selbst als die Person, die man ist, zu akzeptieren – ganz unabhängig vom Geschlecht. Falls ihr euch jemals gefragt habt, was das Gegenteil von toxischer Männlichkeit sein könnte – Steven lebt es vor. Und andere männliche Figuren der Serie wie sein Vater Greg, seine Freunde Lars und Onion und zuletzt im Film Steven Universe: The Movie auch der geheimnisvolle Steg tun es ihm gleich.
„Garnet, Amethyst and Pearl – and Steven”: Familie neu denken
Steven ist Mensch und Crystal Gem zugleich (und nicht etwa zur Hälfte das eine und zur anderen Hälfte das andere). Sein Vater ist der Autowaschanlagenbesitzer und Rocksänger Greg Universe, seine Mutter ist Rose Quartz, die einstige Anführerin der Crystal Gems, die bei Stevens Geburt starb und dabei ihren Edelstein an Steven weitergab. Steven trägt also immer ein Stück von Rose Quartz in seinem Bauchnabel, was im Laufe der Serie zu viel Reflexion über Verlust, Trauer und die Frage führt, ob er deshalb wie seine Mutter sein muss, führt.
Gleichzeitig hat Steven drei weitere Eltern – denn er lebt nicht bei seinem Vater, zu dem er dennoch ein inniges Verhältnis hat, sondern bei Garnet, Amethyst und Pearl. Die drei Gems übernehmen jede für sich wichtige elterliche Funktionen. Während Garnet viel daran gelegen ist, Steven dazu zu empowern, sich selbst wertzuschätzen und seine Stärken als solche zu erkennen, übernimmt Pearl eher eine sich sorgende, dabei aber auch fürsorgende Rolle. Amethyst hingegen ist eher verspielt und macht mit Steven viel Unsinn, kann sich oft aber auch am besten in seine Position hineinversetzen, da sie selbst erst bei den Crystal Gems erwachsen geworden ist. Im Laufe der Staffeln stoßen immer noch mehr Gems zu diesem Familiencluster: Seien es Peridot und Lapislazuli, die wie zwei sehr unterschiedliche Tanten in einem Schuppen in der Nachbarschaft einziehen, oder Bismuth, eine Butch-inspirierte Figur, die gemeinsam mit der Familie ein Trauma aufarbeiten muss. Wie hier Familie neu gedacht wird, ermutigt dazu, den Blick auch in der Realität zu erweitern und verschiedene Modelle als richtig anzunehmen. So wie auch die Bewohner*innen von Beach City, die nach und nach verstehen, dass Stevens Familie zwar anders ist als ihre, aber dennoch aus „responsible parents, caregivers, guardians“ (Übersetzung: verantwortungsbewusste Eltern, Bezugspersonen, Hüter*innen) besteht, die füreinander da sind.
Bis hierhin noch unerwähnt ist die Tatsache, dass auch Pearl mal eine Liebesbeziehung mit Rose Quartz hatte – und somit ihre Beziehung zu Steven nochmal auf einer ganz anderen Ebene eine besondere ist, sieht sie doch immer wieder ihre verstorbene Liebe in ihm. Dass das durchaus problematisch für ihre Rolle als Elter ist, weiß auch die Serie – und thematisiert es ganz bewusst, aber auf angenehme Weise.
„We could be independent together”: Soziale Beziehungen
Beziehungen in Steven Universe sind funktional, nicht toxisch. Zumindest ist das das Ideal, das vorgelebt wird. Dass das nichts ist, was einfach so passiert, sondern etwas ist, an dem man in jeder Beziehung zwischen zwei oder mehr Personen aktiv arbeiten muss, zeigt die Serie auf beeindruckende Art und Weise. Wann immer sich in einer Beziehung ein Ungleichgewicht einschleicht, sich vielleicht sogar toxische oder abusive Züge erkennen lassen, dann macht die Serie das behutsam und empathisch zum Thema. Seien es Stevens Freund*innen Lars und Sadie, die feststellen, dass Sadie über lange Zeit viel mehr emotionale Arbeit in die Beziehung investiert hat als Lars; seien es die „Diamonds“, die wir später in der Serie kennenlernen, die sich in verschiedenste Abhängigkeiten zueinander begeben haben, ohne es zu merken; oder seien es Jasper (di*er Gegner*in der ersten Staffel) und Lapislazuli, anhand derer einfühlsam vorgeführt wird, was es bedeutet, in einer abusiven Beziehung zu leben.
Bei den vielen Beispielen unterschiedlichster funktionaler Beziehungen zeichnet sich vor allem ein Bild ab: Durch die gegenseitige Unterstützung und die Akzeptanz der Identität der*s jeweils anderen wird eine unglaubliche Nähe und Intimität zwischen den Figuren geschaffen – und das ohne jegliche Erotik oder Sexualität. Dafür findet Steven Universe andere Bilder. Eine der interessantesten Mechaniken der Serie diesbezüglich beruht auf der mächtigsten Fähigkeit, die die Crystal Gems besitzen: In so genannten „Fusions“ können sie miteinander verschmelzen, um ihre physische Größe und Kraft zu bündeln und zu erhöhen. Zusammen sind sie stärker als ihre Einzelteile. Die Fusions hängen jedoch stark von den Beziehungen der Individuen untereinander ab – je stärker die Beziehung, desto mächtiger und kohärenter die Fusion. Und andersherum: „Erzwungene“ Fusions in abusiven, ungesunden Beziehungen sieht man das an. Sie sind eher Vermischungen als echte Fusionen und können kaum richtig miteinander funktionieren (weil es zum Beispiel zu viele Köpfe oder zu viele Beine gibt), wohingegen sich bei den echten Fusions immer ein Gewinn aus dem Zusammenschluss ziehen lässt. Hier sieht man, wie tief die Wichtigkeit funktionierender sozialer Beziehungen in die DNA der Serie hineingeschrieben sind.
„Here we are in the future“: Die Bedeutsamkeit von Repräsentation
Es mag bereits angeklungen sein: Rebecca Sugar erschafft in Beach City, dem Wohnort von Steven und seiner Familie, eine Welt, in der Diversität selbstverständlich ist. Drehbuch und Umsetzung zeigen auf natürliche Weise, dass es keine Spezial-Episoden oder Gastcharaktere braucht. Was es braucht, sind diverse Figuren, die einfach existieren und sich wohlfühlen, die sich so identifizieren können, wie sie es möchten. Dabei versteht Rebecca Sugar, dass Vielfalt nicht nur eine Frage von Race, Gender, Körperformen oder sexueller Orientierung allein ist. Erst durch die Kombination verschiedener Aspekte der Diversität nimmt eine reale Welt Gestalt an.
Und so sind im Gender-Konzept der außerirdischen Gems im Prinzip alle nicht-binäre Personen mit größtenteils weiblichen Pronomen und Identifikationen. Verschiedenste Körperformen kommen vor, ohne jemals kommentiert zu werden. Die Figuren haben unterschiedliche ethnische Herkünfte; kulturelle Einflüsse werden gewürdigt, ohne dass jemals eine kulturelle Aneignung stattfindet. Und mit der vielleicht ersten queeren Hochzeit in einer Kinderanimationsserie hat Steven Universe neue Standards gesetzt.
Dabei sind auch das Team und der Sprecher*innen-Cast extrem divers – und involviert. Hört man beispielsweise in den Steven-Universe-Podcast von Cartoon Network hinein, wird man bemerken, mit welcher Wertschätzung und Wonne die Sprecher*innen, Autor*innen und Zeichner*innen über ihre Figuren reden, wie sie sie gemeinsam gestalten und zu dem machen, was sie sind. Schließlich ergänzen sich diverses Figurenensemble und diverser Sprecher*innen-Cast zu einem Gesamtbild, das klar macht: Hier sind Menschen, die ihre eigenen Geschichten erzählen, und genau darum funktionieren sie so gut. Genau darum wirkt jeder Struggle, jeder Konflikt, jede Beziehung, jede Figurenmotivation so ehrlich und real. Oder wie Rebecca Sugar es selbst sagt:
„Often, the conversation around representation is directed toward cis, male, white showrunners and how they can make a positive impact, which is extremely important. But in the case of ‘Steven Universe,’ we’re telling stories about our own experiences. I think it is so critical that L.G.B.T.Q.I.A. people have a platform to reach others like them and not just tell their own stories, but also have fun.“
(Übersetzung: „Oft richten sich die Diskussionen rund um Repräsentation an cis-männliche, weiße Serienmacher*innen, und darauf, wie sie sich positiv auswirken kann – was auch äußerst wichtig ist. Aber hier bei Steven Universe erzählen wir Geschichten über unsere eigenen Erfahrungen. Ich finde es absolut entscheidend, dass LGBTQIA+ Personen eine Plattform bekommen, um andere zu erreiche, die auch wie sie sind – und dabei nicht nur ihre eigenen Geschichten zu erzählen dürfen, sondern auch Spaß haben.“)
Und so ist die Welt von Steven und den Crystal Gems auch ein bisschen die emanzipatorische Utopie, nach der wir uns so sehnen, ein Eskapismus in eine Welt, in der jede*r sein kann, wie si*er ist, in der es kein „normal“ und „anders“ gibt, und in der Konflikte produktiv gelöst werden – nicht ohne klarzumachen: Wir können so etwas auch erreichen. Die Utopie kann Realität werden – dafür braucht es keine außerirdischen Crystal Gems, sondern uns und unser Verhalten.
Fazit: „WE are the Crystal Gems“
Nicht alle Themen, die die Serie auf ihre wunderbare Art aufgreift, findet ihr in den vorangegangenen Zeilen. Ich wünsche euch, dass ihr sie noch selbst entdecken könnt: den Umgang mit Trauer; die Auseinandersetzung mit psychischer Gesundheit; die Kapitalismuskritik und den Versuch, das Konzept der Selbstliebe ohne kapitalistische Ausbeutungsmechanismen zu denken; das Aufgreifen von Außenseiter*in-Sein; die Umweltschutzaspekte. Guckt Steven Universe – allein, mit euren Freund*innen oder mit euren Kindern. Lacht, weint, fühlt. Erlebt die Selbstverständlichkeit von Diversität und das empowernde Potential der Figuren und Geschichten. Lasst euch von den Liedern und Musical-Einlagen ein Lächeln auf die Lippen und den ein oder anderen Ohrwurm in den Kopf zaubern. Und findet euren Lieblings-Gem – es ist für jede*n ein Identifikationsangebot dabei.
(In Deutschland läuft Steven Universe täglich bei Cartoon Network. Ihr könnt die erste Staffel auch auf Netflix schauen. Nach diesen immerhin 52 Episoden findet ihr alle weiteren Staffeln sowie den im August 2019 erschienenen Film „Steven Universe: The Movie“ bei verschiedenen Video-on-Demand-Plattformen. Es lohnt sich außerdem, den Soundtrack zur Serie zu hören, der mittlerweile im Rahmen von drei Alben erschienen ist. Die Zitate aus den Zwischenüberschriften sind alle aus den Lyrics der Lieder entnommen.)