Traurige, fast tragische Musik; die Kamera schwenkt von einer Gruppe sich angeregt unterhaltender und gemeinsam lachender Menschen zu einer Person, die ganz allein auf der Bank in der Bushaltestelle sitzt. Der Kopf ist gesenkt, der Nacken ist bestimmt schon steif und würde schmerzen, würde sie den Blick wieder nach vorne richten. Sie wirkt traurig, und sehr, sehr, SEHR einsam. In der Hand hat sie ein Smartphone, der Daumen zuckt über den Bildschirm hin und her. Kein Wunder, dass die anderen nicht MIT ihr reden, sondern vielleicht sogar über sie.
Ihr kennt dieses Video. Oder das andere. Oder das völlig ganz andere. Es scheint einen Sport zu geben, bei dem es darum geht, das eintönigste, dunkelste, deprimierendste Video über Menschen zu machen, die „viel zu viel Zeit im Internet verbringen und dabei gar nicht mehr am echten Leben, am REAL LIFE, teilnehmen“.
Ich weiß, dass ihr dieses Video kennt. Ihr liked diese Sachen. Ihr sorgt dafür, dass sie in meiner Timeline erscheinen. Ihr macht, dass ich mich kurz schlecht fühle, wenn ich bemerke: Hey, diese Person, die mit dem Handy in der Hand, das könnte ich sein.
Wenn. Ihr. Wüsstet.
Das geht raus an alle Faxgeräteauskenner*innen, an alle Zu-Synthie-Pop-in-Discos-Tänzer*innen und an alle, die sich gefreut haben, als der erste Walkman auf den Markt kam; an alle, die irgendwann mal irgendetwas geil fanden, zu dem ihre Eltern gesagt haben: „Also zu unserer Zeit hat’s das ja noch nicht gegeben. Und hat’s uns geschadet?“
Wenn ihr wüsstet, dass das Internet vor Einsamkeit retten kann.
So viele Menschen haben nie das Gefühl gehabt, zu einer Gruppe wirklich dazuzugehören, im Gegenteil: Wie sehr Gruppen ausschließen können, wenn man einer vermeintlichen Norm nicht entspricht, haben sie in ihrer Umgebung erfahren. Vielleicht haben sie eine chronische Krankheit und die Umgebung findet es „total anstrengend“, dass sie immer Rücksicht nehmen müssen und dass es ihnen nicht immer himmelhochjauchzend gut geht; vielleicht haben sie die „falsche Hautfarbe“; vielleicht sind sie nie zuvor einer anderen trans Person begegnet. Oder alle Freund*innen von früher können nicht nachvollziehen, dass es ihnen wichtiger ist, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, als mit 25 verheiratet zu sein und zwei Kinder zu haben. In diesem Internet finden sie fellow people, auch wenn ihnen soziale Interaktionen nicht leicht fallen und das Zusammensein mit vielen Menschen sie überfordert. In diesem Internet kann sich das erste mal in ihrem Leben das Gefühl breit machen: „Es gibt Menschen, die finden mich toll, weil ich so bin, wie ich bin.“
Aber ihr sagt ja nur: „Hast du denn keine richtigen Freund*innen?“ oder „Das sind doch bestimmt eh nur Betrüger*innen, die gar nicht WIRKLICH so sind, wie sie da tun.“ Dabei gibt es Menschen, die waren nie so sehr sie selbst wie in diesem Internet.
Wenn ihr wüsstet, wie sehr das Internet empowern kann.
Seit ich in meiner Timeline nur einen Tweet von Tipps zu meinem Bluescreen mit schwerem Ausnahmefehler entfernt bin, habe ich mich in Technik eingefuchst und löse nicht nur meine Probleme sondern auch die meines Umfelds am liebsten selbst. Ich, die vor 15 Jahren noch trotz mathematisch-naturwissenschaftlicher Schulklasse dachte: „Das mit den Computern überlasse ich lieber den Jungs, das kann ich doch gar nicht.“ Ich kenne Menschen, die ihr Leben lang für ihre Körperformen geshamed wurden; jetzt machen sie Pole Dance und fühlen sich super. Die Welt hat zwar nicht aufgehört, sie zu shamen, aber sie haben in diesem Internet Vorbilder gefunden, die ihnen gezeigt haben, dass sie alles machen können, was sie wollen (und nichts machen müssen, was sie nicht wollen). Ich habe Menschen kennengelernt, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind und in diesem Internet das erste Mal einen Safe Space finden, der es ihnen ermöglicht, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Weil ihr Umfeld zu Hause fragt: „Bist du dir sicher, dass du doll genug gesagt hast, dass du es nicht willst? Guck mal, dein kurzer Rock hat sich für ihn vielleicht wie eine Einladung angefühlt …“
Aber ihr sagt ja nur: „Verzichte doch in der Fastenzeit mal auf dein Handy, das grenzt ja schon an Sucht!“ Dabei beraubt ihr Menschen teilweise des einzigen Umfelds, in dem sie für das, was sie sind, geschätzt werden.
Wenn ihr wüsstet, wie man in diesem Internet politisch wachsen kann.
Weil einem Perspektiven geboten werden, die sonst im eigenen Umfeld fehlen – wenn man sich dafür entscheidet, zuzuhören. Perspektiven, die sonst marginalisiert werden. Frauen of Colour, Menschen die von Hartz4 leben müssen, alleinerziehende Mütter, alleinerziehende Väter, nicht-binäre Personen, geflüchtete Menschen, trans Personen, Nicht-Akademiker*innen, Menschen mit einer Behinderung, Frauen die keine Kinder bekommen wollen, Überlebende von Gewalt – Menschen die verdammt viel Scheiße in ihrem Leben erleben mussten, die mit strukturellen Dingen zu tun haben. Ob ich ohne dieses Internet heute eine intersektional denkende Queer-Feministin wäre, die bei den aktuellen Wahlergebnissen für die AfD verzweifelt und sich fragt, wo bei den Menschen die verdammte Empathie geblieben ist? Ich weiß es nicht.
Aber ihr sagt ja nur: „Das ist total gefährlich, dass man sich im Internet nur mit Filterblasen umgibt.” Dabei sind die Filterblasen in der haptischen Welt so viel exklusiver, als sie es in diesem Internet je sein könnten.
Das Internet ist ein Ort, eine Zeit, ein Gefühl.
Wenn ihr wüsstet? Seien wir mal ehrlich: Ihr wisst das alles; wir erzählen euch das, immer wieder, in verschiedenen Sprachen, mit erklärenden Worte, mit wütenden Worten, in Bildern, in Videos, in Comics, ja sogar in Büchern oder Zeitungsartikeln, denn – Überraschung – auch Menschen, die sich gerne in diesem Internet bewegen, wissen noch, was Bücher und Zeitungen sind! Vielleicht finden wir ja aber vielfältigere Bücher als ihr, weil wir nicht darauf angewiesen sind, dass der weiße hetero cis Mann, der schon seit 30 Jahren in der Lokalzeitung eine Buchkolumne schreibt, die immer gleichen Geschichten von weißen hetero cis Männern präsentiert.
Ich würde für dieses Internet auf die Straße gehen, wenn man es mir wegnehmen würde.
Ja, auf diese richtig echte REAL-LIFE-Straße da draußen. Denn ob ihr es glaubt oder nicht: Dieses Internet, das sind Menschen, ECHTE REAL-LIFE-Menschen. Es steht für die unendliche Möglichkeit, genau die Menschen kennenzulernen, die ich in meinem Leben haben will. Es steht dafür, Menschen kennenzulernen, von denen ich noch gar nicht wusste, dass ich sie in meinem Leben haben will. Ihr träumt von Raumfahrt? Ich träume davon, irgendwann mal alle Menschen getroffen zu haben, die mir in diesem Internet wichtig sind. Wenn sie das auch möchten.
Wir werden dann gemeinsam nebeneinander auf der Couch sitzen, mit gesenkten Köpfen und steifem Hals, und auf unsere Handys starren. Wir werden uns gegenseitig dabei fotografieren, uns ein paar Katzenohren und einen Schnurrbart ans Gesicht morphen und dieses Internet an unseren gesenkten Köpfen und steifen Hälsen teilhaben lassen. Wir werden politische Diskussionen führen, ohne Angst zu haben, dabei wie am Ende von Familienfeiern weinend auf der Toilette zu sitzen, weil wir dort mit Menschen reden müssten, die unseren Freund*innen oder uns ihre Existenz absprechen; denn wir werden uns sicher beieinander fühlen. Wir werden uns gegenseitig Tweets oder Instagramstories zeigen „OMG dieser Sticker, ich kann nicht mehr, wie witzig ist der denn!“. Wir werden uns eigene Hashtags für unsere Freund*innenschaft ausdenken #TeamKaffeeUndKniffel und uns in 280 Zeichen hin und her schreiben, obwohl wir auch direkt miteinander reden könnten – weil wir es können. Wir werden Pizza bestellen, Fotos vom Karton machen, die keinerlei konventionellen Schönheitsnormen entsprechen, und dabei Diskussionen über Ananas führen („Ananas auf Pizza geht gar nicht!“ „Wenn ich Pizza ohne Ananas bestelle, kann ich auch gleich Brot essen.“). Wir werden kein Problem damit haben, wenn nur eine Person diese Pizza bezahlt, weil die andere aktuell kein Geld übrig hat. Wir werden uns die Probleme erzählen, die wir sonst niemandem erzählen können, werden uns umarmen (wenn beide das möchten) und uns gegenseitig sagen, wie wichtig Selfcare ist. Dabei wird jemand „Hashtag Selflove“ sagen, die Finger zu einer Raute formen und grinsen.
Und es wird großartig sein.
Das geht raus an alle, die jeden Tag mehr Worte in dieses Internet schreiben, als sie mit ihren Kolleg*innen im Büro wechseln, und an alle, die gar keine Kolleg*innen haben, mit denen sie Worte wechseln könnten; das geht raus an alle, die sich schon oft vorwerfen lassen mussten, so zu sein wie die Personen in den Videos mit den steifen Hälsen und den gesenkten Köpfen, und an alle, die bei meiner Beschreibung eben genau solche innerlichen Luftsprünge aufgeführt haben wie ich:
REAL LIFE, das sind wir. Wer braucht schon Haptik, wenn man auch uns haben kann.
(Eine erste Version dieses Textes wurde beim Podstock 2018 im Rahmen eines Poetry Slams vorgetragen. Es gibt davon eine Videoaufzeichnung [ab min 19:38] und eine Audioaufzeichnung [ab min 24:30].)