Das Jahr neigt sich dem Ende zu, die Rückblicke gehören obligatorisch zu dieser Zeit zwischen den Jahren. Und auch wir blicken auf 2019 und auf unterschiedliche Themen, die uns bewegt haben.
Lara
Ein Thema, das mich bewegt hat
TSG – Oh je!
Eine Überarbeitung des sogenannten „Transsexuellenesetzes“ (TSG) ist richtig und notwendig. Das Problem dieses Jahr war, dass der neu erarbeitete Gesetzesentwurf wieder einmal völlig an davon betroffenen Personen vorbei ging. Namen- und Geschlechtseintragsänderungen müssen viel viel einfacher werden. Kein Gerichtsverfahren mehr, keine Gutachten mehr – es muss eine einfache, simple Formalität sein. Transitionen in welcher Art und Weise auch immer sind so schon anstrengend und schmerzhaft genug. Da braucht es nicht noch teure und Nerven zehrende Verfahren. Der Entwurf von diesem Jahr hätte daran wenig geändert – kein Anzeichen von mehr Selbstbestimmung in Sicht. Noch schlimmer: Eine Ablehnung des Änderungsantrags hätte im neuen Entwurf eine erneute Wartefrist von drei Jahren bedeutet, bis man einen weiteren Antrag hätte stellen dürfen! Das Thema wird mich also noch 2020 und wahrscheinlich darüber hinaus beschäftigen. *seufz*
Kultur-Tipps
„Porträt einer jungen Frau in Flammen“ ist ein Film über das (An)Sehen, ein Film, der zeigt, wie Blicke Machtverhältnisse etablieren. Und „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ ist auch ein Film darüber, wie wir diese verändern oder gar auflösen können. Klingt verkopft und fad? Ganz und gar nicht! Es ist ein sinnlicher, kraftvoller Film, der sich vollkommen auf seine wenigen Figuren konzentriert. Die Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen entfaltet sich ohne Kitsch und Pathos, stattdessen mit künstlerischer Zurückhaltung. Davon hätte ich gern mehr. Davon können sich auch Blockbuster-Produktionen eine Scheibe abschneiden.
Was ich mir für 2020 wünsche
Weniger White und mehr intersektionalen Feminismus.
Weniger Grabenkämpfe und mehr Bündnisse.
Weniger Gründe sich zu ärgern und mehr Gründe sich zu freuen.
Becci
Ein Thema, das mich bewegt hat
Natürlich wird es jedes Jahr hunderte feministische Themen und Diskurse geben, solange wir das Patriarchat nicht gestürzt haben; da macht auch 2019 keine Ausnahme. Ich bin aber immer noch beeindruckt davon, wie es in diesem Jahr tatsächlich ein feministisches Thema gab, das bis in meine kleinsten Alltagstätigkeiten vorgedrungen ist und mein Leben in allen Aspekten beeinflusst: Ich spreche vom Diskurs um „Mental Load“. Ich weiß gar nicht, ob ich den Begriff vor einem Jahr schon kannte. So richtig aufgepoppt ist er in meiner Bubble durch den Comic „The Mental Load“ bzw. „You should’ve asked“ von Emma (nicht die Zeitschrift, sondern die Zeichnerin), bzw. durch seine Rezeption. Es geht dabei um all die kleinen Dinge im Alltagsleben (also bei Hausarbeit, Sorgearbeit, Freund:innenschaftspflege, etc.), die unsichtbar mit einer Tätigkeit mitlaufen, aber erledigt werden müssen – und die in gegengeschlechtlichen Paarbeziehungen sehr häufig von den Frauen erledigt werden, während der Mann eine „Du hättest doch nur fragen müssen“-Philosophie an den Tag legt.
Ich bin sehr aufgewühlt durch die Diskussionen, die in diesem Jahr diesbezüglich durch meine Bubble geschwappt sind. Ich hinterfrage seitdem mein eigenes Verhalten in verschiedensten Beziehungskonstellationen, beobachte ganz viel und führe in Gedanken Buch. Ich mache mir Zukunftsgedanken, in denen Mental-Load-Tagebücher eine Rolle spielen. Und ich kann nicht fassen, wie erleichternd all das ist, wie augenöffnend. Es ist mir ein Rätsel, wie ich als durchaus feministisch geprägte Person, die „Das Private ist politisch“ als Leitsatz vor sich her trägt, mir bisher so wenige Gedanken darüber gemacht habe – und wieso es so lange kein feministisches Thema war. Jetzt wünsche ich mir für die Zukunft, dass wir das Thema weniger heteronormativ angehen. Nicht jede Beziehung besteht aus Mann und Frau, nicht jede aus zwei Personen; nicht jede Person ist Mann oder Frau. Eigentlich sollte das eine Selbstverständlichkeit im intersektionalen feministischen Denken sein; jetzt muss es auch im Nachdenken über Mental Load ankommen.
Kultur-Tipps
Ich möchte nie wieder ohne She-Ra und ihre Princesses of Power sein! Die Netflix-Dreamworks-Serie hat sich in diesem Jahr mit ihrer 3. und 4. Staffel ganz tief in mein Herz katapultiert. Ich liebe ihre selbstverständliche Queerness, ihre Geschichten von Freund*innenschaft und Solidarität, und nicht zuletzt ihre Vielfalt an Körperformen, Races, Gender-Identifikationen und – Performances oder Familienkonzepten.
Das Filmjahr 2019 hat so viele emanzipatorische Highlights zu bieten, dass ich mich nicht festlegen kann und euch einfach mit einer bunten Liste für wunderbare Filmabende auf der heimischen Couch ins neue Jahr schicken: If Beale Street Could Talk, Booksmart, Late Night, See You Yesterday, My Days of Mercy – alle sind auf ihre eigene Art perfekt.
Was ich mir für 2020 wünsche
Wenn es mit dem Sturz des Patriarchats zeitnah nicht klappt, dann wünsche ich mir für 2020 immerhin
- dass wir aufhören, die EMMA als feministische Stimme zu hören und/oder zu feiern, solange sie mit rassistischen, transfeindlichen und klassistischen Narrativen versucht, feministische Diskurse zu unterwandern. Eine neue feministische Dekade braucht diese Missachtung von Intersektionalität und Queerfeminismus nicht mehr!
- dass wir unsere Wut als feministische Motivatorin ernst nehmen und wertschätzen – und dass das vor allem auch Allys und solche, die es werden wollen, anerkennen: Ohne Wut der Unterdrückten kein gesellschaftlicher Wandel. Lasst und wütend sein!
- dass der Frauenfußball in Deutschland im Jahr einer Männerfußball-EM nicht noch mehr untergeht, als er es ohnehin schon tut. 2019 war hier das Jahr der Fortschritte: eine erfolgreiche Frauenfußball-WM und Spielerinnen wie Megan Rapinoe, die ihre Popularität ganz im Gegensatz zu ihren männlichen Pendants für ein emanzipatorisches, solidarisches, politisches Engagement nutzen, haben uns gefühlt Welten vorangebracht. Da müssen wir dranbleiben! Das wünsche ich mir natürlich vor allem als Fußball-Fan.
Eva
Ein Thema, das mich bewegt hat
Ein Thema? Wo soll ich da anfangen zwischen #wirlesenFrauen und den Debatten um Abtreibung, dem Literaturnobelpreis, Quoten und gendergerechter Sprache? Mein Jahr 2019 wurde zwangsläufig vom Fokus auf Autorinnen dominiert. Die Aktionen um #wirlesenFrauen haben mich immer wieder Stellung beziehen lassen, aber auch immer wieder dafür gesorgt, dass ich nachgelesen, geforscht und meinen Horizont erweitert habe. Ich habe einige Anfeindungen erlebt und musste meine Initiative so oft verteidigen, erklären und ins rechte Licht rücken, dass mich das Thema der Benachteiligung von Autorinnen definitiv am meisten gefordert und bewegt hat.
Kultur-Tipps
Die kanadische Netflix-Serie „Moms“ zeigt erstaunlich realitätsnah verschiedene Mütter, die sich selbst in ganz unterschiedlichen Situationen mit ihrer Mutterschaft beschäftigen und Wege finden, dabei sie selbst zu bleiben. Von postpartaler Depression über Fremdheit zum eigenen Kind sowie Abtreibung bis hin zum ganz „normalen“ Alltag kommt viel zusammen.
Judith und Christian Vogt haben mit „Wasteland“ einen gendergerechten Roman geschrieben, der nicht nur verschiedene Lebensentwürfe, sondern auch unterschiedliche Arten von Gesellschaften darstellt und dabei Identität in mehreren Facetten zeigt.
2019 habe ich – besser spät als nie – angefangen, Podcasts zu hören. „Frauen schreiben auch“ von Vivien und Katharina, zwei Literaturwissenschaftlerinnen, beschäftigt sich mit meinem Herzensthema: der Unsichtbarkeit von Autorinnen. Den beiden fiel auf, dass sie auf den Literaturlisten der Uni kaum Frauen fanden; darum sprechen sie darüber und stellen Autorinnen in ihrem Podcast vor.
Was ich mir für 2020 wünsche
Vieles, was in einem Jahr nicht zu schaffen ist.
Dass Informationen als Werbung gewertet werden, ist lächerlich. Es gibt so viel betrügerische und gefährliche Werbung; reine Informationen mit ihnen gleichzusetzen, ist schlicht unverschämt. Ärzt:innen sollten straffrei darüber informieren dürfen, wenn sie Abtreibungen durchführen und wie sie es tun!
Die eigenen Privilegien sorgen oft dafür, dass wir unsere Bequemlichkeit nicht aufgeben wollen. Dass es aber in Sprache und Handeln nie darum geht, sich selbst einzuschränken, sondern andere einzubeziehen, sollte selbstverständlich werden. Ich wünsche mir mehr Mut, inklusive Sprache anzuwenden und alltäglich zu machen. Weder gendergerechtes Sprechen noch die Vermeidung von anderen Diskriminierungen im Sprachgebrauch sollte besonders sein. Es sollte stattdessen in den Medien, der Politik und auch sonst dominieren.
Natürlich steht auf meiner Wunschliste auch, dass die zweite Runde #wirlesenFrauen noch mehr Aufmerksamkeit erfährt und über das Internet hinaus Wellen schlägt. Die Sichtbarkeit von Autor:innen wirkt sich auf das gesellschaftliche Verständnis aus und kann so dafür sorgen, dass die Wahrnehmung und Repräsentation von Frauen sich ändert.
Mari
Ein Thema, das mich bewegt hat
Mich bewegen immer unzählige Themen, und gerade im feministischen Bereich möchte ich am liebsten überall mitmischen. Allerdings gibt es ein Thema, das mich nicht loslässt, vielleicht auch nie loslassen wird: #metoo, Rape Culture, Sexualisierte Gewalt.
Ich bin Survivor, und jedes Mal, wenn ich wieder über Menschen, vornehmlich Mädchen, Frauen und als solche von den Täter:innen Wahrgenommene, lese, denen das gleiche wie mir widerfahren ist, deren Fall in die Öffentlichkeit gezogen und dann breit diskutiert wird, steigt Übelkeit in mir auf. Viel zu oft wird nicht diskutiert, wie man das Rechtssystem für die Opfer solcher Taten verbessern kann, sondern darüber, ob die Faktenlage überhaupt den Straftatbestand einer Vergewaltigung zulässt, oder auch darüber, ob die Betroffenen nicht selbst schuld sind. Vor allem in den Kommentarspalten und Twitterkommentaren der Nation wird patriarchalisch-jovial über junge Mädchen geurteilt, Frauen als zu alt für Opfer erklärt; ebenso wird Männern das Opfer-Sein-Können abgesprochen, sie können ja gar nicht vergewaltigt werden, und queere Menschen, insbesondere nicht-cis, nicht-binäre Menschen, haben laut manchen Kommentator:innen ja sowieso keine Rechte und haben die armen Täter:innen garantiert verwirrt.
Dass dieses Thema nicht ad acta gelegt werden kann und darf, zeigen auch Sprüche wie „Metoo kann im Karneval auch mal Ferien machen“ – als ob sexualisierte Gewalt da nicht stattfindet bzw. ja gar nicht „so gemeint“ wäre – und „Die Metoo-Spaßbremsen verstehen ja eh nichts vom Karneval/Oktoberfest/Fifa Fanfest/You Name It!“
Karneval ist bald wieder, eine Fußball-EM der Männer steht an, Oktoberfest wird nicht ausfallen, und zwischen all den Massenveranstaltungen ist noch der Alltag, in dem jeden Tag Menschen durch sexualisierte Gewalt verletzt und traumatisiert werden. Das beschäftigte mich 2018, das beschäftigte mich 2019, und es wird mich auch in den nächsten Jahren beschäftigen.
Kultur-Tipps
Leider habe ich aktuell keine neuen Kultur-Tipps wie meine Mitschreiberinnen. Ich lese vor allem, und habe euch über Jahr immer wieder Bücher vorgestellt. Die Literaturlisten findet ihr:
Bücher für die feministische Weihnachtswunschliste
LGBTQ* in Comic, Manga, Graphic Novels. Eine Auswahl
Feministische Literatur, Teil 2
Was ich mir für 2020 wünsche
Weniger Grabenkämpfe, mehr Verständnis. Sowohl für andere feministische Gruppen als auch für Menschen, die neu im Diskurs sind und die sprachlichen Fallstricke noch nicht kennen. Es muss aufhören, dass neue Kämpfer:innen erstmal auf die Stille Treppe gesetzt werden.
Mehr Intersektionalität. Ich will mehr mehrfach marginalisierte Stimmen im Diskurs hören!
Mehr feministische Spaces, in denen man sich auch im Real Life austauschen oder Frust ablassen kann.
Und zu guter Letzt: einen famosen, wirksamen, unlöschbaren Brandsatz für das Patriarchat.